Schnaps und Pillen für die Zukunft

Immer mehr Kinder und Jugendliche greifen zu erlaubten Drogen / Der Griff in die Pillenschachtel wird zur Gewohnheit / Beruhigungs-, Schlaf- und Aufputschmittel – nichts ist tabu  ■ Von Susanne Billig

Wenn Ingo, 11 Jahre alt, sich auf die Zehenspitzen stellt, kommt er gerade so eben heran an das Medikamentenschränkchen zu Hause. Sobald die Türen aufspringen, tut sich dort ein bunter Berg an Pillen, Dosen und Schachteln auf. Der deutsche Durchschnittshaushalt hält viel Chemie für unverzichtbar: Schmerzmittel sind der Renner der Selbstmedikation, wie das „Jahrbuch Sucht“ der „Deutschen Hauptstelle gegen die Suchtgefahren“ in Hamm Jahr für Jahr aufs neue verzeichnet. Dicht darauf folgen Erkältungs- und Grippemittel, Herz- und Kreislaufpräparate, Pillen gegen Magen- und Darmgeschwüre, Rheuma, Allergien und Asthma. Nicht zuletzt kommen Beruhigungs-, Schlaf- und Aufputschmittel hinzu. Die Psychopharmaka bringen die Botschaft des zunehmenden Medikamentengebrauchs am deutlichsten auf den Punkt: Mit der Pillenschachtel versuchen – nicht nur Erwachsene – Leiden in den Griff zu bekommen, die vorwiegend psychischen und psychosomatischen Ursprungs sind.

Auch Ingo zögert nicht lange, drückt sich ein paar Tabletten aus der Schachtel – und macht damit in seiner Schulklasse nicht etwa eine Ausnahme. In welchem Ausmaß und vor allem: warum greifen Kinder und Jugendliche zu Arzneimitteln und zu legalen Drogen, also Tabak und Alkohol? Mit dieser Ausgangsfrage begann Dr. Elisabeth Nordlohne vom Forschungszentrum für Kinder- und Jugendgesundheit der Universität Bielefeld 1986 eine Studie, deren Ergebnisse sie jetzt der Öffentlichkeit vorstellte. Nordlohnes Untersuchung vermittelt zum ersten Mal einen abgesicherten Einblick in die Gründe für das Ansteigen des Arzneimittelkonsums bei Kindern und Jugendlichen, wie es von PsychologInnen, PädagogInnen, LehrerInnen und ÄrztInnen schon seit einiger Zeit beobachtet wird.

Der Alkohol ist die Droge Nr.1 der Deutschen. Mit unserem Bier- und Schnapskonsum schaffen wir es jedes Jahr locker an die Spitze der Weltrangliste. Das bleibt nicht ohne Wirkung auf die Kinder: Allein in Nordrhein-Westfalen gelten rund 46.000 Kinder und Jugendliche zwischen 12 und 17 Jahren als akut alkoholgefährdet, weil sie mehrmals in der Woche zur Flasche greifen. Diese Zahl stammt aus einer repräsentativen Studie, die die „Gesellschaft zur Förderung der Freizeitwissenschaften“ schon vor zwei Jahren durchführte. Trotz der Verschärfung der Drogen- und Suchtproblematik stellte der Gebrauch legaler Drogen durch Kinder und Jugendliche bisher ein eher wenig beackertes sozialwissenschaftliches Forschungsfeld dar, eine Lücke, die Elisabeth Nordlohne mit ihrer Erhebung nun schließt.

Was den Alkohol angeht, kann Nordlohne zunächst einmal vorsichtig entwarnen: Der Konsum war über den Beobachtungszeitraum leicht rückläufig. Während 1986 73 Prozent der befragten 12jährigen abstinent lebten, nahmen zwei Jahre später schon 81 Prozent der vergleichbaren Altersgruppe keinerlei Alkohol zu sich. Als gleichermaßen rückläufig erwies sich der gelegentliche und der regelmäßige Konsum von Alkohol. Auch Zigaretten scheinen immer weniger „in“ zu sein bei Jugendlichen. Elisabeth Nordlohne interpretiert dies als „Anzeichen einer Entwicklung, die auf ein zunehmendes Gesundheitsbewußtsein im Hinblick auf Risikopraktiken zurückzuführen ist“.

Dennoch bleiben die Zahlen besorgniserregend: Legaler Drogengebrauch gehört, so die Bielefelder Wissenschaftlerin, „für einen Großteil von Jugendlichen heute zum festen Bestandteil ihres Verhaltensrepertoires“. Die Hälfte trinkt gelegentlich oder regelmäßig, zwei Prozent der Jugendlichen nehmen weiche Alkoholika – Bier, Wein, Sekt – sogar in erheblichen Mengen zu sich. Galten bisher das 15. und 16. Lebensjahr als besonders sensible Phase für den Einstieg in den Drogenkonsum, muß diese Einschätzung nach den Befragungen Nordlohnes jetzt nach unten revidiert werden: „Bei einem erheblichen Anteil der Jugendlichen“, schreibt die Wissenschaftlerin, „lagen bereits in recht frühen Jahren gelegentliche oder auch regelmäßige Konsummuster vor.“ Nordlohne spricht hier von 11- und 12jährigen. In den vier Jahren, über die sich ihre Studie erstreckte, änderten sich die einmal erworbenen Rauch- und Trinkmuster der Heranwachsenden kaum noch.

Medikamente erfreuen sich im Gegensatz zum Alkohol bei Kindern und Jugendlichen – und den Eltern, die sie ihnen verabreichen – steigender Beliebtheit. An der Spitze liegen Erkältungs- und Grippemittel, gefolgt von Kopfschmerz- und Allergiemitteln und Präparaten für Lungen und Bronchien. 40 Prozent der 12jährigen geben an, regelmäßig Kopfschmerzmittel einzunehmen. Bei den 17jährigen ist es schon jeder zweite. Annähernd so viele greifen regelmäßig zu Grippemitteln. Beruhigungs- und Schlafmittel werden schon von rund 10 Prozent der Jugendlichen regelmäßig genutzt. Auch Anregungs- und Aufputschtabletten sind nicht tabu: 6 Prozent der 12jährigen und 11 Prozent der 17jährigen mogeln sich damit um ihre psychische Befindlichkeit. Mädchen, so ein Ergebnis der Bielefelder Befragung, greifen häufiger als Jungen zu Arzneimitteln. Mit dem Älterwerden prägt sich diese Geschlechtsspezifität immer stärker aus.

Grund des Mißbrauchs ist in erster Linie, so resümiert Nordlohne ihre Befragung, der Schulstreß. (Und nicht etwa umgekehrt: Drogenmißbrauch führt zu Schulversagen.) „Treten Schwierigkeiten in der Schule auf, die sich in Versetzungsgefährdung, tatsächlicher Klassenwiederholung, Verfehlen eines Schulabschlusses oder Verletzung der eigenen, teils sehr anspruchsvollen Leistungserwartungen ausdrücken, dann zeigen sich bei den Jugendlichen deutliche Beeinträchtigungen ihres Gesundheitszustandes und verstärkte psychosomatische Beschwerden wie Kopfschmerzen, Magenschmerzen, Schwindelgefühle, Schlafstörungen und Übelkeit. Mit dieser Gesundheitsbeeinträchtigung geht meist das Gefühl einher, durch die schulischen Anforderungen überbeansprucht zu sein.“ Der als mangelhaft erlebte Gesundheitszustand soll mit der Einnahme von Medikamenten wieder in einen funktionierenden Zustand gebracht werden. Mädchen mit ihrer sensibleren Selbstwahrnehmung reagieren dabei empfindlicher auf tatsächliche oder vermeintliche Körpersignale – und schlucken mehr Tabletten. Je nervöser die Eltern auf die Leistungsschwierigkeiten ihrer Kinder reagieren, um so eher fühlen diese sich krank, und um so rascher kommt es zum Griff zur Pillenschachtel: „Eltern, die Streit mit ihren Kindern über schulische Leistungsbilanzen suchen, tragen damit indirekt zu einer weiteren Steigerung des Arzneimittelge- und -mißbrauchs bei“, schreibt die Bielefelder Wissenschaftlerin.

Ingo, der 11jährige, hat also Glück, wenn seine Eltern ihm, erstens, nicht selbst geraten haben, es mit dem Medikamentenschränkchen zu versuchen, und, zweitens, Verständnis für seine schulischen Probleme aufbringen. Dafür jedenfalls plädiert die Bielefelder Forscherin: ÄrztInnen sollten Medikamente nur bei klar definierten Krankheitsbildern an Jugendliche und ihre Eltern herausgeben. LehrerInnen sollten „die schulischen Leistungsanforderungen nachvollziehbar vermitteln und jede Diskriminierung von schwächeren Schülern vermeiden“.

Aber, bleibt zu fragen, wie unrealistisch sind denn die Ängste von Kindern und Jugendlichen (und Erwachsenen) in einer Gesellschaft, die sich eine Verschärfung des wirtschaftlichen und sozialen Klimas leistet, wie es sich derzeit abspielt? Letztlich haben die pillenschluckenden SchülerInnen ja nicht ganz unrecht: Freundliches Schulternklopfen von elterlicher oder Lehrerseite im Einzelfall hin oder her – wenn die Kinder es nicht hinbekommen mit der Leistung in der Schule, drohen wir ihnen eine düstere Zukunft an.