Ein Begräbnis für den Reichsverweser

Im zweiten Teil der taz-Serie zur Bedeutung der Geschichte in Osteuropa geht es um Ungarn, die Restaurierung des Geistes der Horthy-Ära und die Revision der Verträge von Trianon  ■ Von Keno Verseck

Als Anfang April 1990 die Sieger der ersten freien Wahlen im postkommunistischen Ungarn feststanden, bemerkte der Philosoph und ehemalige Oppositionelle Gáspár Miklós Tamás, das Ergebnis bedeute eine Restaurierung des Geistes der Horthy- Zeit. Die Äußerung löste einen Skandal aus und forderte den gerade gewählten Ministerpräsidenten József Antall zu heftigen Protesten heraus. Tamás' Bemerkung mochte damals und lange Zeit später noch so übertrieben sein – aus heutiger Sicht scheint sie sich mehr und mehr zu bewahrheiten.

Dreieinhalb Jahre nachdem der Regierungschef so heftig Einspruch erhob, nennt er den einstigen Hitler-Verbündeten Horthy nun einen „ungarischen Patrioten“ und behauptet, daß dieser nie ein Antisemit gewesen sei. Der Anlaß gleicht einem Menetekel: Miklós Horthy, der sein Land ein Vierteljahrhundert lang durch eine erzreaktionäre, antisemitische Herrschaft prägte, wird am 4. September im südungarischen Kenderes neu und öffentlich begraben werden.

Als Veranstalterin des Traueraktes, für den der 1957 in Lissabon verstorbene und dort begrabene Horthy exhumiert wird, tritt formal seine Schwiegertochter auf. Sie hat offiziell keine Einladungen versandt, heißt jedoch alle, die teilnehmen wollen, „herzlich willkommen“. Erwartet werden zwischen 20.000 und 100.000 Menschen. Als „Privatpersonen“ wollen eine Reihe von Regierungsmitgliedern kommen, darunter der Innen- und Verteidigungsminister. Eine Entscheidung über Antalls Teilnahme steht noch aus. Die größte Zeitung des Landes, Népszabadság (Volkseinheit), merkte dazu an, ein Minister sei so lange Privatperson, wie er sein eigenes Haus nicht verlasse.

Der einstige „Reichsverweser“ und Konteradmiral Horthy, der Ungarn von Juni 1920 bis zum 15. Oktober 1944 beherrschte, ist in Regierungskreisen salonfähig geworden. Während des Kommunismus hatten die Parteiideologen freilich so lange an Horthy herumgefeilt, bis aus ihm tatsächlich ein „lupenreiner“ Hitler-Faschist geworden war. Gewissermaßen in Antihaltung dazu befleißigten sich konservative Politiker und Historiker nach 1989 nun einer Geschichtsrevision mit umgekehrten – nationalen – Vorzeichen.

Führende Mitglieder von Regierung und Regierungspartei, die, wie auch Antall, von Haus aus Historiker sind, haben dabei wortreich mitgemischt. Eine zweifelhafte These über die Horthy-Epoche hat im postkommunistischen Ungarn den Rang einer herrschenden Doktrin erobert: Der erfolglose Politiker Horthy, besagt sie, ließ das von der Sowjetunion bedrohte und von Deutschland bedrängte Ungarn unwillentlich in die Allianz mit Hitler und die Katastrophe der Pfeilkreuzler-Diktatur von Oktober 1944 bis Anfang 1945 treiben.

Terror der Roten gegen Terror der Weißen

Vom Terror und den Pogromen an Juden zu sprechen, die das von Horthy befehligte weiße Militär in Ungarn verübte, nachdem die kommunistische Rätediktatur Béla Kuns 1919 zusammengebrochen war, trägt heutzutage leicht den Beigeschmack kommunistischer Propaganda. Demgegenüber ist die „Schreckensherrschaft Béla Kuns“ in den Augen so mancher Politiker das „Schlimmste, was jemals über Ungarn kam“, obwohl Horthys Terror den des Béla Kun an Qualität und Quantität durchaus übertraf.

Ebenso beschönigen Konservative und Rechtsgerichtete die Rolle, die Horthy beim Holocaust an 400.000 ungarischen Juden spielte. Unter den Kommunisten war zwar nichts davon zu erfahren, daß Horthy die Deportation der Budapester Juden hatte verhindern wollen. Nun jedoch wird ihm das als patriotische Heldentat angetragen.

In Wirklichkeit waren zuvor unter Horthys Mitwirkung die Juden aus der ungarischen Provinz abtransportiert worden. Als die Reihe an das Budapester Ghetto kam, befand sich Horthy bereits in geheimen Waffenstillstandsverhandlungen mit den Alliierten. Während dieser Zeit konnte er – schon um seiner Glaubwürdigkeit willen – natürlich keine Juden deportieren lassen. Doch andererseits steht Horthys Name für die antijüdischen Gesetze in den zwanziger (!) und die Einführung der „Nürnberger Rassengesetze“ in den dreißiger Jahren.

Das Ziel einer positiven Neubewertung Horthys ist nicht etwa eine Neuauflage der Grenzrevisionspolitik, welche der „Reichsverweser“ fast 25 Jahre lang betrieben hatte. Zu gut weiß auch die ungarische Regierung, daß sowohl außenpolitische Umstände als auch die heutige Nationalitätenzusammensetzung in den einst ungarisch beherrschten Gebieten dagegen sprechen. Doch, so heißt es in ihren Kreisen, könne niemand verlangen, daß sich die Ungarn auch noch glücklich darüber schätzten, nach dem Friedensvertrag von Trianon (1920) zwei Drittel ihres Territoriums verloren zu haben. Trianon schmerze die Ungarn noch immer, sagt Regierungschef Antall.

In der Tat waren die Trianon- Grenzen von den Interessen der Entente diktiert und ethnisch gesehen großenteils unsinnig. Millionen von Ungarn in zum Teil kompakten Siedlungsgebieten fanden sich über Nacht in anderen Staaten wieder. Ungarn selbst stand nach Trianon vor einem totalen ökonomischen Desaster, während die von dem Vertrag profitierenden Nachbarländer im wesentlichen nur machtpolitische Gewinne verbuchen konnten. Demgegenüber sind jedoch so manche historischen Umstände, die zu Trianon führten, etwa die aggressive Magyarisierungspolitik im ungarischen Teil des Habsburgerreiches, aus dem öffentlichen Bewußtsein in Ungarn schlicht ausgeblendet.

Unter Ungarns Konservativen und national Gesinnten, zu denen auch die Regierung zu zählen wäre, hat sich der Konsens herausgebildet, daß Trianon das Schicksal der Nation gewissermaßen determiniert habe. Die aggressive „irredentistische“ Außenpolitik der Zwischenkriegszeit wird entweder als natürlich bedingte bzw. gerechtfertigte Folge des Friedensvertrages gesehen. Oder aber, so die These der gemäßigteren Nationalen, Horthy seien die Zügel seiner Herrschaft Stück für Stück entglitten.

Die Horthy-Zeit als Politikerkomplex

Führende Regierungspolitiker Ungarns sind heute von einem Komplex der Horthy-Zeit besessen: Die Wechselfälle der Geschichte hätten sich von jeher gegen Ungarn gerichtet; es gelte, die Nation dagegen zu behaupten. Ähnlichkeiten der heutigen mit der Politik der zwanziger und dreißiger Jahre sind augenfällig. Die Regierung strebt einen, in ihrem Sinne, strengen nationalen Konsens an. Sie verfolgt gegenüber den Nachbarstaaten vielfach eine konfrontative, nicht kooperative Außenpolitik. Rußland wird weiterhin als Bedrohung der Existenz Ungarns angesehen. Als größte innenpolitische Gefahr gelten linke Parteien und Kräfte; die Regierung ist seit ihrem Amtsantritt spürbar nach rechts gerückt.

Bemerkenswert bei all dem ist, daß die Regierung mit einer solchen Politik kaum „die“ Nation zu repräsentieren scheint. Das gesellschaftliche Leben in Ungarn bestimmt eine Generation, die die Horthy-Zeit nur aus Erzählungen kennt.

Während für diese Generation weder Trianon noch die Zwischenkriegszeit von wirklichem Interesse sind, haben eine Reihe von Mitgliedern der Regierung und der Regierungspartei die 30er Jahre noch als Jugendliche erlebt. Doch welchen Rang Miklós Horthy in Zukunft in Ungarn einnimmt, wird daran abzulesen sein, wer und wie viele Menschen am 4. September nach Kenderes kommen.

Die taz-Serie erscheint jeden Dienstag und kann beim taz-Archiv angefordert werden. Nächste Woche: Polen