: 300 Sekunden im Postamt Von Andrea Böhm
Es gibt zahlreiche Tricks, mit denen Politiker im Wahlkampf nach Ämtern streben – zum Beispiel mit der Lüge, keine Steuern zu erhöhen. Das an sich ist nicht verwerflich, wenn die Steuern nachher sinnvoll verwendet werden, aber die Aussichten auf Wiederwahl erhöht es nicht. Diese Einsicht hat nun auch die Clinton-Administration gewonnen. Da kommt nun, gerade zur rechten Zeit, um nach der Sommerpause wieder die Wogen zu glätten, der Vizepräsident mit ein paar prächtigen Vorschlägen auf die Bühne. Al Gore ist seit ein paar Monaten mit einer ganz kniffeligen Aufgabe beschäftigt: Reinventing government. Zu deutsch etwa: Er soll die beim Volk so verhaßte „Bundesregierung neu erfinden“ – was schlicht bedeutet, die staatliche Bürokratie in ein kundenfreundliches Dienstleistungsunternehmen zu verwandeln. Das ist nun so richtig nach dem Geschmack des Volkes, zumal der zweite Mann im Staat seine Reformpläne mit einigen werbeträchtigen Zuckerstückchen versehen hat, bei dem auch so manchen deutschen BürgerInnen die Augen übergehen würden: Wer Anspruch auf Rückerstattung von Steuern anmeldet, soll innerhalb von vierzig Tagen sein Geld auf dem Konto haben; wer in Zukunft telefonisch Auskunft über die Sozialversicherung begehrt, soll 24 Stunden am Tag statt eines Leer- oder Besetztzeichens einen kundigen Ansprechpartner in der Behörde vorfinden. Schließlich das Sahnehäubchen auf dem neugebackenen Regierungskuchen: Innerhalb einer Stadt oder eines Landkreises soll die Post bereits nach 24 Stunden beim Adressaten auf dem Tisch liegen. Last not least die Trüffelspitze auf dem Sahnehäubchen: Im Postamt, so verspricht der Vizepräsident, müssen Kunde und Kundin in Zukunft nicht länger als fünf Minuten warten.
Obwohl gemeinhin als zentraler Sozialisationsfaktor für Westdeutschland und seine Bevölkerung bekannt, haben die USA überraschend viele Ähnlichkeiten mit der ehemaligen DDR. Autobahnen, Restaurants und eben Postämter fallen in diese Kategorie: Die US-Highways erinnern schmerzhaft an Transitstrecken, in den Restaurants wird man plaziert, und die Schlangen im post office haben oft realsozialistische Dimensionen. Die Stunden, die man sich in Sichtweite lustloser Bediensteter für eine Briefmarke oder ein Luftpostpäckchen an die Liebsten jenseits des Atlantiks in den Bauch gestanden hat – all das soll zwischen New York und San Francisco demnächst der Vergangenheit angehören. Wow, spricht die Kundin und reibt sich die Ohren.
Nun fragt man sich, wie der gute Al die Regierung neu erfinden will, ohne gleich wieder die Steuern zu erhöhen. Ganz einfach: Ein paar Behörden wie zum Beispiel die notorisch erfolglose Drogenpolizei will er abschaffen, den staatlichen Fluglotsen private Konkurrenz in den Nacken setzen und 35 Milliarden Dollar jährlich einsparen, mit denen der Staat bislang Bürokraten bezahlt, die die Effektivität anderer Bürokraten kontrollieren. Wieviel am Ende wirklich neu erfunden wird, hängt am Ende vom Kongreß ab. Sollten die Amerikaner im nächsten Jahr tatsächlich nicht länger als 300 Sekunden im Postamt anstehen müssen, dann kann sich Al Gore 1996 selbst Chancen auf das Präsidentenamt ausrechnen. Zumindest sollte man ihm eine Briefmarke widmen.
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