„Heimat is ma jewesen“

■ Was bedeutet „Zuhause“? Wem wurde es genommen, wer hat es genommen? Andreas Voigts Film „Grenzland“ unternimmt eine deutsch-polnische Reise

Das Leben an einer Grenze bedeutet Alltag in der Gewohnheit des Ausnahmezustandes. Leben an der falschen Grenze, gemeint ist die von verarmend zu noch ärmer, heißt meist Vergessenwerden – niemand mache sich da etwas vor.

Andreas Voigt, Dokumentarfilmer und Jahrgang 1953/Ost, hat sich auf den Weg in eine besonders ungeliebte und vom Wohlstand ausgeschlossene Region begeben. Zwischen Herbst 1991 und Spätsommer 1992 bereiste er die Oder- Neiße-Grenze. Die wurde vor noch kaum vier Jahren östlich der Elbe auch als „Oder-Neiße-Friedensgrenze“ tituliert, und in Voigts Film-Essay „Grenzland“ steht zu besichtigen, was es mit jener geographischen Peripherie, die noch nie eine politische war, auf sich hat.

Vorausgeschickt sei, daß der Bewertungsausschuß der Bundesfilmanstalt diese knapp 90 Minuten dauernde, 600.000 Mark kostende, dabei spannende und wunderbarerweise keineswegs tendenziöse Geschichtslektion eines Prädikats nicht für würdig erachtete. „Völkerschicksale... beliebig, unpräzise“ lautet die Kennzeichnung der Bundesfilmanstalt unter anderem, und warum das ebenso hanebüchen dumm wie skandalös ist, soll nachfolgend ausgeführt werden.

Nein, es gibt in diesem Film keinen Kommentar aus dem Off, der dem Zuschauer fein säuberlich politisch korrekte Trennkost serviert. Auch ist keine dramatisch dräuende Musik zu vernehmen, wenn Böses ins Bild tritt, und keine sanft schmeichelnde, wenn Gutes sich stark macht. Der Regisseur hat Polen und Deutsche, sprich „einfach Menschen“ diesseits und jenseits der Grenze, ihre Biographien erzählen lassen. Bauern, Pommesbudenbesitzer, eine bald arbeitslose Chemiefaserspinnerin, den Nachtclubbetreiber mit Porsche, die alten Gutsherren mit Mercedes, die schon wieder die neuen sind.

Kinder, Skins und Rentner werden mit ebendemselben sachlichen Respekt behandelt, der dem einzelnen Leben durch seine Träume die Würde beläßt, mögen sie noch so kläglich sein. Bilder und Sätze von „Grenzland“ kommentieren sich selbst, und das tun sie vollkommen, via intelligente Montage. Weder wird rechte Dumpfheit billig denunziert noch quasi edle Menschlichkeit in materieller Armut als pittoresk verklärt. Solche Methode ist doch wohl weder „beliebig“ noch „unpräzise“ oder „oberflächlich“. Voigt rechnete mit Hirn und Herz des Zuschauers, statt Klischees zu servieren.

Von daher begleitet die Kamera Männerchöre deutscher Vertriebenenverbände mit dem gleichen mentalarchäologischen Voyeurismus wie die Worte eines polnischen Schiffers: schlichtes Hoffen darauf, daß vielleicht alles doch noch gut ausgeht, obwohl „die Welt in einem so schrecklichen Zustand ist, daß dies das Ende sein muß“. Das Gesicht des Polen ist grau vor Anstrengung, sich und seine Familie durch die polnische Rezession zu bringen, die mit der deutschen gerade mal die Begrifflichkeit gemein hat. Andreas Voigts in Strasbourg preisgekrönter Film kreist um nichts Geringeres als die Frage, was „Zuhause“ eigentlich bedeutet, wo es liegt, wem es genommen wurde oder wer es genommen hat.

„Heimat is ma jewesen, kann ma so sagen“, sinniert ein Greis, dessen Geburtsort jetzt nur „zwei Kilometer nach rechts“ liegt. Grenze meint nicht nur die geographische Trennlinie, sondern auch einen Realitätsbegriff, der sich gefährlich „in progress“ befindet. „Ich habe vergessen“ gilt als Metapher, nicht allein für Vokabeln, aber es wird gottlob nicht mit der Existenz herumgenichtet. „Die Vertreibung aus der angestammten Heimat hat doch mit dem Zweiten Weltkrieg nichts zu tun“, murmelt ein kaum 50jähriger „Vertriebener“. No comment.

Geschichten und Erinnerungen also: irgendwo ein Polenmarkt, ein Dorf muß der Kohle weichen. Blutjunge Skins trinken am äußersten Ende der Wohlstandswelt in einer Disco namens „Junge Welt“: Ausländer sein sei, „bis abends um eins auf der Trommel rumzuhauen“. Russische Soldaten biwakieren, vielleicht das letzte Mal, neben einer verlassenen Kaserne, und ein altes polnisches Ehepaar, er Fotograf mit einer vorsintflutlichen Kamera, baut gerade eine Dekoration für Kommunionsbilder auf. Beider Leben ist eine exemplarische Mikro-Reise ins deutsch-polnische Verhältnis, und sie gipfelt in der erstaunlichen Frage: »Wie heißt Deutschland jetzt? Deutsche Demokratische Bundesrepublik?“ Ein anderer: „Die Deutschen waren schließlich auch ein Volk, das Menschen zu Seife verarbeitet hat.“ Dann der Schnitt zum „Heil Hitler!“-Gebrüll der Skins. „Hätten Sie diesen Film bloß früher gemacht!“ und „es tut weh“, konstatiert ein polnischer Bauer, als er dem Filmteam ein verfallenes Damenstift zeigt. Die Grenze trennt letztendlich Verlierer und Verlierer – absurd.

Nach „Grenzland“ kommt man sich klüger und trauriger vor. Keine United-Colours-Ästhetik, dafür „Wir sind alle Menschen. Aber nicht jeder ist einer.“ Würden doch bloß mehr solche Filme gemacht. Und gezeigt. Anke Westphal

„Grenzland“, Regie: Andreas Voigt, Kamera: Sebastian Richter, Reiner M. Schulz, 16 mm, 88 Minuten

Vom 2. bis 8.September ist „Grenzland“ in der Berliner Brotfabrik zu sehen. Danach tourt der Film durch Frankfurt/Oder, Cottbus, Guben, Eisenhüttenstadt und alle sonst interessierten Städte.