Ein Pflichtmensch, der Polens Retter sein wollte

■ Wojciech Jaruzelski, der General und spätere Präsident – war er Lakai der Sowjetmacht oder treuer Sohn seines Vaterlandes?

Adam Mickiewicz, Polens großer romantischer Dichter und revolutionärer Patriot, hat mit seinem „Konrad Wallenrod“ eine Figur geschaffen, die bis in unsere Tage im Bewußtsein der polnischen Öffentlichkeit lebendig ist. Wallenrod, Offizier des mittelalterlichen litauisch-polnischen Heeres, schleicht sich in den Deutschen Orden ein, verrät die strategische Planungen der Ordensritter und stirbt – zerrissen zwischen dem feudalen Ehrbegriff, mit offenem Visier zu kämpfen und seiner patriotischen Pflicht zur Spionage.

Ist Wojciech Jaruzelski Konrad Wallenrod? – Das war die Frage, die in den achtziger Jahren viele der polnischen Intellektuellen diskutierten, die sich dem einfachen Schwarzweiß, „wir“ (die Gesellschaft) gegen „sie“ (die realsozialistische Staatsmacht) entziehen wollten. Der General mit der Sonnenbrille und der stets kerzengraden Haltung (beide kriegsverletzungsbedingt), der Politiker, der ein korrektes, ja schönes Polnisch sprach – war er nun ein Lakai der Sowjetmacht oder ein treuer Sohn des Vaterlandes? Oder womöglich beides?

Schon im Zweiten Weltkrieg, im Kampf gegen die deutsche Wehrmacht, wird der junge Soldat das Opfer einer ambivalenten historischen Situation. Er tritt, Sohn eines nach dem Hitler-Stalin-Pakt 1939 in die Sowjetunion verschleppten Landadligen, in die Armee ein, die auf Geheiß und unter Kontrolle der Sowjets von General Berling gebildet wurde. Eine Armee von Patrioten, gewiß, aber abhängig von Stalins Gnaden.

Jaruzelski steht 1944 am rechten Ufer der Weichsel und sieht den Warschauer Aufstand verbluten. Die Rote Armee bleibt passiv, und die polnischen Verbände dürfen nicht aktiv werden. Jaruzelski weiß, daß die Entsetzung der Aufständigen militärisch möglich gewesen wäre.

An das realsozialistische Regime binden den Berufsoffizier verschwommene Gerechtigkeitsvorstellungen, die Staatsräson, nach der Polen nur im Bündnis mit der Sowjetunion überleben könne, vor allem aber: die Pflicht. Noch eine Querverbindung zur Sowjetunion: auf Vorschlag von Marschall Rokossowski, Verteidigungsminister und Aufpasser Stalins in Polen, wird der glänzende Generalstäbler 1956 zum jüngsten General der polnischen Armee ernannt. August 1968 hat er keine Bedenken, als Einheiten der polnischen Armee von Schlesien aus in die Tschechoslowakei einrücken, um, an der Seite sowjetischer Waffenbrüder, dem Prager Frühling den Garaus zu machen.

Würde die Armee auch auf das eigene Volk schießen? 1970, als die Arbeiterrevolte an der Ostseeküste blutig niedergemacht wurde, war Jaruzelski Verteidigungsminister. In seinen Memoiren versichert er 1992, keinerlei Anteil an dem fatalen Schießbefehl gehabt zu haben. Jaruzelski trat 1970 für eine politische Lösung ein. Er unterstützte die Wahl Eduard Giereks zum neuen Parteisekretär. Auch 1981 wird er für eine politische Lösung, das heißt für eine Zusammenarbeit mit Solidarność, eintreten. Allerdings nur bis zu der Grenze, die ihm die Staatsräson, wie er sie versteht, vorschreibt.

Die aber glaubt er durch die neue Gewerkschaft gefährdet. Wie alle Pflichtmenschen beutelt ihn die Angst vor dem Chaos. Zu Unrecht ist er der Meinung, die Solidarność betreibe den Austritt Polens aus dem Warschauer Vertrag und gefährde damit die schiere Existenz des Landes. Ihm fehlt es an Phantasie, zu begreifen, wovon die führenden Männer (und die wenigen führenden Frauen) der Solidarność sich tatsächlich leiten ließen: von der Idee der sich selbst begrenzenden Revolution.

Seine Fernsehansprache nach der Proklamation des Kriegsrechts beendete Jaruzelski mit der ersten Zeile der polnischen Nationalhymne. „Noch ist Polen nicht verloren.“ Er wollte Polens Retter sein. Brüderliche Hilfe nur für den Notfall. Nichts spricht gegen die Annahme, daß Jaruzelski auch gegenüber den Sowjets hartnäckig für eine „polnische Lösung“ der Krise eintrat. Bloß brauchten die gar nicht missioniert zu werden. Die in seinen Memoiren nahegelegte Version, er sei mit dem Kriegsszustand einer sowjetischen Intervention nur um Stunden zuvorgekommmen, war allerdings nie sehr glaubwürdig und ist durch die Veröffentlichung des Politbüroprotokolls der KPdSU vom 10. Dezember 1981 endgültig widerlegt.

Und nichts berechtigt uns, zu glauben, Jaruzelski habe im Winter 1981 den Frühling 1989 vorausgesehen. Jaruzelski ist nicht Konrad Wallenrod. Das macht nichts. Seine loyale und demokratische Haltung nach 1989 wird seine Verantwortung für den 13.12.1989 zwar nicht tilgen. Aber schon jetzt ist klar, daß er einer der großen „Helden des Rückzugs“ bleiben wird. Christian Semler