Ist Picasso ein Telefon?

■ 526.000 Augen warfen Blicke auf einen Einsamen

Kunst übe ihre Funktion nur solange aus, „wie sie noch Fragen stellt und Probleme aufwirft“, sagte Kunsthallendirektor Uwe M. Schneede jüngst in einem Interview. Daher sollen hier einmal einige Fragen, die sich aus der Picasso-Ausstellung Die Zeit nach Guernica 1937-1973 ergeben haben, zu Sprache kommen.

Die von der Telekom gesponserte Ausstellung hinterläßt, bei aller Klasse der gezeigten Exponate, einiges Unbehagen: Unbehagen nicht — dies sei vorab bemerkt — aus irgendeinem kunsthistorischen Standesdünkeln oder der Angst vor dem Verlust interpretatorischer Exclusiv-Rechte. Und Unbehagen auch nicht über den finanziellen Erfolg, der Kunsthalle und Publikum gleichermaßen zugute kommen wird.

Das Unbehagen beginnt bei der Werbestrategie: „Kunst ist Kommunikation“ verkündete die Telekom mit definitorischem Absolutheitsanspruch. Daraus leitet sich nach formaler Logik folgendes ab: Wenn Kunst Kommunikation ist, Kommunikation verbindet, und Telekom Kommunikation ist, ist Picasso, der Kunst gemacht hat, darin sind sich alle einig, Telekom. Selbst wenn man von nun an Picasso und die Kunst als eine Spielart des Telefons betrachtete, erscheint eine weitere Schlußfolgerung äußerst bizarr: Picasso verbindet. Gerade dies hat er aber nie getan.

Picasso ist ein Einzelphänomen, das eben weder mit der Werbung, noch mit dem Massenurteil zu erhellen und zu verstehen ist. Der vom Picasso-Experten und Ideengeber der Ausstellung Werner Spieß verfaßte Katalog ist zweifelsohne hervorragend. Aber der Autor verleugnet eine Position, die zum Thema Picasso Hervorragendes und Profundes zu bieten hat: John Bergers Buch über „Glanz und Elend des Malers Picasso“ (1965). Hierin begründet des Essayist und Romancier, daß Picasso selbst dem bürgerlich romantischen Kunst-Vorurteil konterrevolutionär Vorschub geleistet hat, indem er den bürgerlichen Genie-Begriff als eine notwendige Daseinsform des Künstlers in die eigene Mythologie übertragen hat. Seine Analyse verdeutlicht, daß Picasso nur in der Untersuchung der ökonomischen und politisch-historischen Folie Spaniens vom 16. bis zum frühen 20. Jahrhundert durchsichtig und verständlich gemacht werden kann. Hierauf aber wurde weder in der Ausstellung noch im Katalog aufmerksam gemacht. Aber gerade „Guernica“ ist eine Bruchstelle nicht nur in Picassos Werdegang, sondern für die Entwicklung der Geschichte der Kunst schlechthin.

Haben nun die 263.000 Besucher der Picasso-Ausstellung bewiesen, daß sich plötzlich eine Liebe zu dem eigensinnigen Gestaltungsdrang Picassos entwickelt hat, nachdem man ihn kleinbürgerliche Jahrzehnte lang als Wahnsinnigen desavouierte? Und ist daraus abzuleiten, daß die „Augen-Eintrittskarten-Einschaltquoten“ der neue, verbindliche Maßstab werden, eine Kunst-Ausstellung als erfolgreich zu bezeichnen? Aufgeklärt wurde — verständlicherweise — auch nicht über den geschickten Manager Werner Spieß, der mittlerweile die Nachlässe von Picasso und Max Ernst nahezu exklusiv zu verwalten scheint, und nun durch die Organisations-Allianz mit Beuys-Sozius Heiner Bastian, vielleicht auch noch den Beuys nach Beuys unter seine Fittiche bekommt?!

Aber Spieß, der es wie kaum einer anderer versteht auf der Klaviatur des Sponsorings zu spielen (Deutsche Lufthansa, Mercedes Benz, Telekom), sollte kein Anrecht darauf nutzen, wie im Katalog (S.16) geschehen, andere Interpretationen als „Possensammlung“ zu bezeichnen. Sein Sponsoring-Gesamtkunstwerk deutscher Prägung könnte zu einer folgenschweren Tragi-Komödie führen: Ein Kunstverwaltungs-Kartell halbstaatlicher Finanzierung unter seiner privaten Leitung, als SAT-sam vermarktetes intellektuelles „Wünsch Dir was“ im Kreise der Kultur-Schickeria? Kunst gleich Picasso gleich Spieß gleich Telekom gleich Kunst...? Ein kritisches Aufarbeiten des Picasso-Bildes, das eine Klärung über die spezifischen Innovationen, Revolten und selbststilisierten, bürgerlichen Mythologien erreicht, war bei aller Güte der Exponate nicht zu sehen.

Ob der vereinsamte Picasso erfreut gewesen wäre über den Andrang derer, die ihn zum Halbgott erhöhten und seinen Namen besser kennen, als die Inhalte und provokanten Formbrüche seiner Werke, muß Spekulation bleiben. Aber daß er sich selbst als Telefon begriffen hätte, muß mit einem deutlichen „Nein“ beantworten werden.

Wie sagte der Anarchist und Spanier Picasso so überlegenswert: „Ein Bild ist eine Summe von Zerstörungen“. Welch erhellende Erkenntnisse könnte also das zerstörte Bild vom Mythos „Genie Picasso“ liefern?

Gunnar F. Gerlach