"Kaum Spielraum"

■ Ex-Oberbürgermeister von Ostberlin, Erhard Krack, gibt vor Gericht Wahlfälschung zu / Erster Prozeßtag in Moabit

Als Politiker könne er sich von einer Mitverantwortung für die Auswüchse eines deformierten Systems nicht freisprechen, begründete der Oberbürgermeister von Ostberlin, Erhard Krack, im Februar 1990 seinen Rücktritt. Seine Erklärung an die Stadtverordnetenversammlung wiederholte er gestern im Gerichtssaal – und bekannte sich schuldig im Sinne der Anklage, angeordnet zu haben, die Ergebnisse der letzten DDR- Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 fälschen zu lassen. Seit gestern müssen sich Krack, seine Stellvertreterin Hannelore Mensch, der 2. Bezirkssekretär der SED, Helmut Müller, sowie elf Bezirkspolitiker wegen des Vorwurfs der Wahlfälschung vor dem Amtsgericht Moabit verantworten. „Wir hatten kaum politischen Spielraum“, rechtfertigte Krack die Manipulation der Wahlergebnisse.

Daß bei den Wahlen nicht alles so laufen könnte, wie die SED- Spitze das erwartete – und das hieß, daß mindestens ein Ergebnis von 99 Prozent für die Einheitsliste „Nationale Front“ vorliegen mußte – war den politisch Verantwortlichen spätestens wenige Tage vor der Wahl klar. Aus den teilweise sich widersprechenden Aussagen der Angeklagten ließ sich herauslesen, unter welchem Druck sich die Bezirkspolitiker im 40. Jahr der DDR fühlten. Gerade in der „Hauptstadt der DDR“ durfte es „keine schwarzen Schafe“ geben, so der Stellvertreter von Günter Schabowski, Helmut Müller.

Er, der jegliches Wissen, daß es sich um Wahlfälschung handelte, in bestem SED-Jargon bestritt, hatte sich am 4. Mai mit den Kreissekretären und Bezirksbürgermeistern gestroffen, um eine „Orientierung“ für die Wahl zu geben. Mit dabei Krack, Schabowski und Frau Mensch, die in Einzelgesprächen vorher die „Stimmung“ eruiert und auf Weisung von Krack und Schabowski ein „Wahlergebnis“ erarbeitet hatte. Die Mehrzahl der verhörten Bürgermeister gab gestern zu, die Wahlergebnisse, die tatsächlich in einzelnen Bezirken trotz massiver Repressionen unterhalb der „Orientierung“ lagen, geschönt zu haben.

Einigen, wie Gottfried Kroschwald aus Mitte, war offenbar durchaus bewußt, was sie taten. Er referierte mit zitternder Stimme, daß er am Nachmittag des Wahltags ins Rote Rathaus gefahren sei, um das reale Ergebnis durchzusetzen. Alles, was er erreichen konnte, war, daß er mehr ungültige Stimmen einsetzen durfte als ursprünglich vorgesehen. Frau Mensch bestritt, den Bürgermeistern konkrete Vorgaben gemacht zu haben, mußte jedoch zugeben, etwa der Bürgermeisterin von Weißensee, die ebenfalls weit schlechtere Ergebnisse mitbrachte als vorgesehen, am Wahlabend auf Weisung Kracks geschönte Zahlen diktiert zu haben. Der Prozeß wird am Montag fortgesetzt. kd