Die Normalität unnormaler Tore

Eintracht Frankfurt – Karlsruher SC 3:1 (0:0)  ■ Aus Frankfurt Matthias Kittmann

Drei, vier, fünf Mal innerhalb von 30 Sekunden stöhnten 35.000 Zuschauer: „Schieß doch, schieß!“ Doch Jay Jay Okocha schoß nicht. Uwe Bein hatte ihm den Ball aufgelegt. Zwei Schritte nach rechts, erneute Ausholbewegung, KSC- Keeper Kahn fliegt heran – vorbei, Okocha ist schon wieder auf dem Weg nach links. Zwei Verteidiger stellen sich ihm in die Quere, kurz den Ball zurückgezogen, die beiden springen paarweise ins Leere, wieder holt er zum Schuß aus, Reich und Novotny kreiseln zur anderen Seite, derweil Kahn in sein Tor zurückgekehrt ist. Die seltsamen Spielgefährten befinden sich inzwischen auf Höhe des Elfmeterpunktes. Ein Zucken in Jay Jays Fuß zwingt die Verteidiger zu einem weiteren Doppel-Toe-loop. Noch ehe sie den Boden wieder erreicht haben, schnippt Okocha das Leder an allen drei vorbei lässig ins Tor – rauschhafte Zustände im nächtlichen Rund. Frankfurts Zuschauer, enthusiastischer Überschwenglichkeiten bisher gänzlich unverdächtig, erheben sich zu minutenlangen stehenden Ovationen. Seit fünf Spieltagen ist der Eintracht-Zirkus wieder auf Tournee – mit noch besseren Artisten. Dabei gehört der Nigerianer Okocha eigentlich nur zur Nachwuchsgarde, erst in der 65. Minute kam er für Stammspieler Jan Furtok. Üblicherweise spielt er in der Oberliga, da die Profis Ausländer wie andere gute Kicker im Überfluß haben.

Nun ergibt eine Ansammlung von Stars nicht automatisch eine gute Mannschaft. Daher sind die „Big Five“ der Frankfurter – Stein, Binz, Bein, Gaudino und Yeboah – auch nur bedingt der Schlüssel zum derzeitigen Erfolg. Nein, das entscheidende Plus der Frankfurter Eintracht sind die anderen Spieler. Ein ansehnliches Offensivspiel konnten sie schon immer aufziehen. Doch genauso oft gerieten sie in die Bredouille, wenn etwa Uwe Bein einen schlechten Tag erwischte. Die chronische Kopfballschwäche in der Abwehr war schon fast sprichwörtlich. Seit allerdings der Georgier Kochaber Tsahadadse dort mit seinen 1,90 Metern aufräumt, geht fast kein Kopfballduell mehr verloren. Das vermindert nicht nur drastisch gegnerische Torchancen, sondern dämpft auch das Nervenflattern der übrigen Abwehrspieler erheblich.

Der wenig spektakuläre, weil sachlich spielende Dietmar Roth zum Beispiel erlaubte dem KSC- Russen Kirijakow keine einzige Schußmöglichkeit. Auch braucht man in Frankfurt keine leidige Viererketten-Diskussion zu führen. Abgesehen davon, daß die Eintracht dieses „moderne System“ schon in den sechziger Jahren spielte, genügen der heutigen Mannschaft dafür zwei Spieler – der schmächtige Ralf Falkenmayr und der 37jährige Rudi Bommer. Die fangen die meisten Angriffe schon an der Mittellinie ab. Mit Mauricio Gaudino und alternativ Weber oder Komljenovic hat das Mittelfeld ebenfalls eine neue Qualität entwickelt. Als der Karlsruher Wolfgang Rolff zum Beispiel in der ersten Halbzeit die Kreise von Regisseur Bein wirkungsvoll, wenn auch an der Grenze des Erlaubten, einengte, rückte dieser in die Spitze vor. Die Eintracht wurde damit nicht etwa schwächer, sondern stärker. Der, wenn schon nicht Erfinder, so doch Meister des „tödlichen Passes“ drehte den Spieß einfach um: Er läßt nun den tödlichen Paß spielen, um dann selbst zu vollenden. In Nürnberg ließ er sich von Komljenovic „tödlich“ zum vorentscheidenden 2:0 anspielen, gegen den KSC war es Gaudino, der bedrängt von drei Gegenspielern den Ball in die Gasse spielte, die Bein erahnte.

Mit diesem Potential können sich die Frankfurter eine fast aufreizende Lässigkeit im Umgang mit ihren Tormöglichkeiten erlauben – sie haben einfach genug. Als in der 65. Minute der gerade eingewechselte Ex-Frankfurter Edgar Schmitt den überraschenden Ausgleich erzielte, schwante den meisten Zuschauern Böses. Nicht jedoch der Mannschaft. Ohne hektisch zu werden, vertraute sie darauf, zu weiteren Chancen zu kommen. Tatsächlich hatten die Hessen in den zwölf Minuten bis zur erneuten Führung drei weitere hochkarätige Möglichkeiten. Und dann fiel ausgerechnet in der schwierigsten Situation, auch das ist typisch für die derzeitigen Frankfurter Auftritte, das Tor – ein Beinah- Flugkopfball von Uwe Bein auf Flanke von Okocha.

Daß an diesem Abend Anthony Yeboah erstmals in dieser Saison kein Tor erzielte, störte niemanden. Denn dadurch, daß er immer drei Gegner mit sich schleppte, war genügend Platz für die Zirkusnummern etwa eines Jay Jay Okocha. Auf die Frage, ob er nie „normale“ Tore schieße, anwortete er mit zwingender Logik: „Eben das ist schon wieder normal.“