Lebensraum Leichenberg

Ein Gespräch mit Dr. Gottfried Böhme, seit 1969 Mitarbeiter am geologischen und paläontologischen Institut im Museum für Naturkunde an der Berliner Humboldt-Universität  ■ Von Harald Fricke

Nach 165 Millionen Jahren haben Dinosaurier wieder Hochkonjunktur. Wo berühren sich dabei die naturkundlichen Interessen mit denen der Unterhaltung?

Ein Film wie „Jurassic Park“ hat zumindest einen interessanten Hintergrund: Der Nachweis von Genmaterial in fossilen tierischen Resten ist wissenschaftlich möglich, aber die daraus abgeleitete Reaktion von fossilem Erbgut mit Zellkernen von heute existierenden Organismen verläßt diese Basis. Für eine solche Übertragung auf heutige Lebewesen gibt es bisher keine wissenschaftliche Grundlage. Da ist zwar experimentiert worden, aber es hat nicht funktioniert. Die gleiche Diskussion einer Wiedererweckung ausgestorbener Tiere hatten wir vor 15 Jahren etwa, als in Sibirien Mammutkadaver gefunden wurden, die weitaus enger mit lebenden Arten verwandt sind als die Dinosaurier mit heute existierenden Reptilien. Im Film fungiert sogar ein Amphibium, ein Frosch, als Überträger, da geht die Phantasie wohl etwas weit. Auch wenn es denkbar wäre, aus dem Blut, das dem Körper einer in Bernstein eingelagerten Mücke entnommen wird, genetisch einen Saurier zu rekonstruieren, so doch nur für ein einziges Exemplar und nicht die Vielfalt der Spezies.

Methodisch besteht die Paläontologie zunächst einmal aus nichts als Sammeln, Benennen und Klassifizieren. Die daraus abgeleiteten Bilder sind im wesentlichen abstrakt. Interessiert sich der Forscher mehr für ein Erkenntnisbild als für den visuellen Eindruck?

Das gehört zusammen. Wir haben es ja fast immer nur mit Fragmenten von Lebewesen zu tun, bei Wirbeltieren sind es unter Umständen nur einzelne Knochen. Daraus ein vollständiges Bild entstehen zu lassen, das ist schon eine große wissenschaftliche Aufgabe. Wenn sie einmal das Skelett unseres Brachiosaurus nehmen, dann haben sie an der Ausgrabungsstätte in Ostafrika eigentlich nur einen wirren Haufen von Knochen beieinander gehabt. Das erfordert erst einmal eine genaue Analyse jedes einzelnen Elements und im Anschluß daran die Analyse der Zusammengehörigkeit dieser Elemente, um Schlußfolgerungen über ein Tier von solchen Ausmaßen zu ziehen, dessen Gestalt bis dahin noch unbekannt war. Denn es war durchaus eine große Überraschung für die Forscher, daß eine Sauriergruppe existierte, bei der – im Gegensatz zu fast allen anderen Sauriern, die zu dieser Zeit bekannt waren – die Vorderextremitäten länger als die hinteren sind. Mit solchen Überraschungen in bezug auf den anatomischen Bau muß man in jedem Fall eines Fundes rechnen. Hätte man in diesem Fall die verschiedenen Extremitäten nicht in Verbindung vorgefunden, dann hätte man daraus unter Umständen zwei völlig verschiedene Tiere gemacht. Jeder neue Fund, der eventuell vollständigeres Material liefert, kann ein anderes Bild von einem solchen Organismus liefern – nicht nur neu für die Gestalt des Tieres, aus dem Knochenbau resultieren auch unsere Erkenntnisse über die Lebensweise und die Umwelt dieses Tieres. Wir sind also eigentlich nur auf die Knochen angewiesen.

Fossile Ablagerungen sind dann schon Glücksfälle?

Meistens sind es nur Einzelknochen, in besonderen Fällen findet man auch zusammenhängende Skelettpartien, vollständige Skelette sind absolute Ausnahmen.

Ohne den neuen Forscherdrang in Sachen Saurier zu bremsen: Wieviel gut erhaltene Skelette hat man bisher gefunden?

Vom Brachiosaurus beispielsweise gibt es überhaupt keinen vollständigen Skelettfund. Es sind immer nur Teile gewesen, die Reste von zwei Skeletten, wobei in unserem Fall der Schwanz und große Teile des Körpers im Zusammenhang waren. Dazu kommt, daß der Schädel bei der Rekonstruktion nicht oben ans Original gehängt wurde, sonst könnte ihn ja keiner mehr richtig sehen; außerdem wäre das Gewicht zu groß, so daß dadurch Schäden auftreten könnten. Aber so, wie unser Exemplar hier steht, ist es das einzige vollständige Skelett, was auf der Erde existiert. Diese Tiere hat es sicher zu ihrer Zeit in der oberen Jura in Afrika, auch in Amerika oder Europa – es gibt zum Beispiel Funde aus Portugal – zu Zehn- wenn nicht Hunderttausenden gegeben. In den ostafrikanischen Fundstellen sind die Reste, zumindest Einzelknochen, von mehreren Dutzend Individuen ausgegraben worden. Aber im allgemeinen wird immer nur ein winzig kleiner Bruchteil der auf der Erde lebenden Organismen so dem allgemeinen Stoffkreislauf entzogen, daß er auch Jahrmillionen später wiedergefunden werden kann.

Ist es nicht erstaunlich, daß aus allen Zeiten, von der entlegendsten bis zur nächsten Vorgegenwart, fast immer die gleiche Menge an Funden übriggeblieben ist. Es gibt nicht mehr Beweise für die Existenz der Neandertaler als von den um ein Vielfaches älteren Sauriern?

Es ist die Normalität, daß immer nur ein kleiner Teil aus dem Stoffkreislauf der Erdkruste herausfällt, sonst würden wir heute auf einem Leichenberg existieren. Meistens sind jedoch die Bedingungen in den jeweiligen Lebensräumen überhaupt nicht danach gemacht, die Tiere werden sofort wieder bis in all ihre Bestandteile aufgearbeitet. Die ganzen Landwirbeltiere bleiben, wenn sie sterben, auf dem festen Land liegen und werden dort sofort zersetzt. Nur wenn ein solches Tier etwa vom Hochwasser bis ans Meer abtransportiert wird und dann auf den Meeresboden sinkt, kann es vom Schlamm überdeckt und der Kadaver in Teilen konserviert werden. Das sind langwierige Vorgänge, in denen so ein Körper zerlegt wird. Hier in Europa finden sie zwischen den Flußablagerungen immer nur Einzelknochen und nie zusammenhängende Skelettelemente, weil durch die Bewegung des Wassers ein solches Skelett aufgearbeitet wird: Die Sehnen zerfallen, die anderen weichen Organe verfaulen, und zum Schluß ist der Knochen quasi so etwas ähnliches wie Geröll, deshalb auch die Abrollungserscheinungen an diesen Knochen. Bestimmte Teile sind dann eben nicht mehr erhalten, empfindlichere Knochen werden zermahlen, nur massige Knochen bleiben übrig.

Das klingt alles nach einem natürlichen Lebensablauf und nicht nach der großen Katastrophe, die immer wieder beschworen wird, wenn es um das Ableben der Saurier geht?

Da haben sie völlig recht, die Katastrophen, die immer wieder herangezogen werden, sind für das Aussterben der Saurier nicht verantwortlich. Das Aussterben von Organismen ist ein ganz normaler Vorgang, der ständig in der Erdgeschichte vor sich geht. Das Aussterben der Saurier verlief über mehrere Millionen Jahre, am Ende standen sich im wesentlichen ein Pflanzenfresser, der dreihörnige Triceratops, und das Tyrannosaurus gegenüber. Aber allein schon dieses Verhältnis von 1:1 zeigt eigentlich, daß eine solche Gemeinschaft nicht überlebensfähig war. Heute kommen in Afrika auf eine Vielzahl von pflanzenfressenden Huftieren nur wenige Jäger, die auf diese Beute angewiesen sind.

Selbst wenn man von einem heroischen Aussterben qua Katastrophe spricht – zum Leben gehört nicht allein der Verfall, sondern auch das Ausbleiben der Nachkommenschaft?

Es ist grundsätzlich ein vielfältiger Prozeß, bei dem eine große Anzahl von Faktoren einwirken, die bei der oberflächlichen Betrachtung nicht berücksichtigt werden. Es wird immer nach irgendwelchen spektakulären Ereignissen gesucht, aber das liegt gewissermaßen auch an unserer Einstellung gegenüber Problemen. Wir suchen immer irgendwie Katastrophen, langsamere Entwicklungen finden dann nicht so das Interesse. Aber wenn wir an die Erdgeschichte herangehen, dann wirkt das alles zusammengedrängt, auch wenn es sich um gewaltige Zeiträume handelt: Nur in der Retrospektive erscheint alles katastrophal. Wir ziehen immer Grenzen heran, doch die gibt es in der Natur nicht, das sind alles nur Übereinkünfte.

Liegt nicht eine gewaltige Ironie in der Tatsache, daß alle paar Minuten eine Art ausstirbt, während man sich in derselben Zeit mit großem Aufwand an die Rekonstruktion von Sauriern macht?

Da sind zwei Prozesse am wirken: Einmal sterben Tiere durch die natürlichen Veränderungen in ihrem Lebensraum aus, zum anderen durch die Veränderung dieses Lebensraums durch den Menschen beziehungsweise durch die ganz gezielte Ausrottung. Irgendwann ist eine Population eben zu klein, um sich am Leben zu erhalten. Die Rekonstruktion von Sauriern ist doch nur eine Ersatzbefriedigung. Die Menschheit würde gerne noch einmal sehen, wie diese Wesen gelebt haben, und es gibt Leute, die ein solches Leben zu simulieren versuchen. Damit ist aber doch keine vergangene Tierart wiederentstanden, sondern nur ein Bild.