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Keine Insel der reichen Seligen

Verbale Aufrüstung für Sozialabbau / Real fünf Millionen Arbeitslose am Wirtschaftsstandort Deutschland / Konkurrenten stehen vor der Haustür / Reichtum nicht haltbar  ■ Von Donata Riedel

Berlin (taz) – Der „Standort“ ist ursprünglich ein militärischer Begriff und meint „Garnisonsstützpunkt“. Vermutlich speist sich das Unbehagen vieler Linker gegen „die Standortfrage“ aus der Abneigung gegen alles Soldatische – zumal der Standort ja auch noch gesichert und gegen die fernöstliche Konkurrenz verteidigt werden soll. Der Standort und ein 100seitiger Bericht aus dem Wirtschaftsministerium über seine Zukunft sind heute Thema im Bundeskabinett. Die begriffliche Aufrüstung aber kann immer weniger verdecken, daß Deutschland sich auf einsamen Höhen des Reichtums nicht wird halten können.

– Arbeit: Schon heute sind fünf Millionen Menschen arbeitslos; 3,5 Millionen offiziell und 1,5 Millionen, die in Kurzarbeit, diversen ABM-Projekten und Umschulungskursen stecken. Seit Frühjahr sind allein in der verarbeitenden Industrie 650.000 Arbeitsplätze abgebaut worden, weitere Massenentlassungen sind geplant. Allein die Autoindustrie wird voraussichtlich weitere 100.000 Arbeitsplätze streichen. Den Entlassenen bleibt kaum noch der Trost, daß sie beim nächsten Aufschwung einen neuen Job bekommen werden. Denn seit 1975 ist die sogenannte Sockelarbeitslosigkeit bei jeder Rezession um 750.000 Menschen gestiegen – diesmal werden es eher noch mehr sein.

– Sozialversicherungen: Die Bundesanstalt für Arbeit kann schon lange ihre Ausgaben nicht mehr aus den Beiträgen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern decken. Das Defizit wird (nach 13,2 Milliarden Mark 1992) in diesem Jahr 22 Mrd. DM betragen. Die Renten werden – wegen des steigenden Anteils alter Menschen – auf lange Sicht unbezahlbar.

– Staatsfinanzen: Die öffentlichen Haushalte haben bereits vor der Rezession ein Schulden-Hochgebirge aufgetürmt, das sich aus den Altschulden aus sozialliberaler Regierungszeit, den Schulden der Kohl-Koalition und den Transferkosten für Ostdeutschland zusammensetzt. Wie das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in seinem neuesten Wochenbericht schreibt, löst das bisherige Sparpaket die Probleme nicht. Dem Bund (einschließlich Sondervermögen), den Ländern und Gemeinden würden in diesem Jahr 152 Milliarden und im nächsten 143 Milliarden DM fehlen. Dabei sei bereits eine sehr restriktive Ausgabenpolitik unterstellt. Im Jahr 1989 machte der Fehlbetrag 13 Milliarden DM aus. 1991 betrug er 123 und 1992 rund 115 Milliarden DM.

Die Schulden vergangener Jahre belasten die kommenden: 14 Prozent aller Einnahmen werden im nächsten Jahr für den Schuldendienst draufgehen (nach 12 Prozent 1992).

Das DIW kritisiert, daß die Bundesregierung mit ihrem Sparpaket, das in erster Linie die Leistungen für Arbeitslose beschneide, konjunktur- wie sozialpolitisch fragwürdig handle. Zudem werde ein Teil der Finanzierungslasten lediglich vom Bundeshaushalt (Bundesanstalt für Arbeit) auf die Gemeindehaushalte (Sozialhilfe) verlagert.

Maßnahmen, die auf mittlere Sicht zur Bewältigung der strukturellen Haushaltsprobleme beitrügen, würden kaum in Angriff genommen. Weder komme der Subventionsabbau nennenswert voran, noch seien Ansätze erkennbar, Rationalisierungspotentiale im öffentlichen Dienst auszuschöpfen, kritisieren die Wirtschaftswissenschaftler. Potentiale zur Ausweitung des Steueraufkommens, wie der Abbau des Ehegattensplittings, würden nicht genutzt, Steuerhinterziehung nicht energisch genug bekämpft.

– Wirtschaft: Seit der „antifaschistische Schutzwall“ fiel, liegen Billiglohnländer direkt vor der Haustür. Zudem sind die Osteuropäer keine Analphabeten, sondern gut ausgebildete Fachkräfte, die gerade in der industriellen Fertigung vergleichbare Arbeit zu einem Bruchteil des Lohnes leisten. Während der Durchschnittsarbeitsplatz in Wesstdeutschland mit 6.578 Mark pro Monat zu Buche schlägt, kostet er in Polen für den Arbeitgeber nur 367 Mark, in Tschechien 401 Mark, in Ungarn 663 Mark. Gleichzeitig hat Westdeutschland die kürzesten Arbeitszeiten der Welt.

Das Argument, im Hochlohnland Bundesrepublik müßte eben vermehrt Spitzentechnologie eingesetzt werden, zieht nur bedingt: Die Massenarbeitslosigkeit trifft in der Regel ältere und wenig qualifizierte Menschen. Zudem dient Hochtechnologie der Rationalisierung – weniger Beschäftigte produzieren mehr Güter. Allerdings: In punkto High-Tech und Innovationsfreude haben die Japaner, die USA und demnächst wohl auch fernöstliche Staaten wie Südkorea längst die Nase vor den Europäern.

Die Industrie und die FDP bringen vor diesem Hintergrund immer wieder die Möglichkeit ins Spiel, neue Niedriglohngruppen im Dienstleistungssektor zu schaffen wie in den USA – ohne zu berücksichtigen, daß die so Beschäftigten häufig weniger als das Existenzminimum verdienen.

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