Rexrodt auf Linie: Hau weg den Sozialscheiß

■ Heute wird das Papier der Regierung über den „Wirtschaftsstandort“ Deutschland veröffentlicht / Themenkatalog von Ausbildungszeiten bis Rente

Bonn (taz) – Als „Offenbarungseid einer gescheiterten Wirtschaftspolitik“ hat die SPD das Standortpapier der Bundesregierung zurückgewiesen. Der Bericht zur „Zukunftssicherung des Wirtschaftsstandorts Deutschland“, den Bundeskanzler Helmut Kohl im Frühjahr in Auftrag gegeben hatte, soll heute nachmittag im Kabinett verabschiedet werden. Die Klage, daß deutsche Unternehmen den Anschluß an die Spitze zu verlieren drohen, richte sich gegen die Bundesregierung selbst, erklärte der stellvertretende SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine. Die Regierung habe es versäumt, die technologischen und ökologischen Rahmenbedingungen für die Modernisierung der deutschen Wirtschaft zu setzen. Scharf wandte sich der Wirtschaftsexperte der SPD gegen die „Fortsetzung der unsozialen Verteilungspolitik“. Als „unverantwortliche Verunsicherung der Betroffenen“ kritisierte Lafontaine den beabsichtigten Leistungsabbau bei der Renten- und Krankenversicherung. Die Bundesregierung lasse die „Chance für eine nachhaltige Stärkung des Wirtschaftsstandorts Deutschland ungenutzt“, weil sie sich einer ökologischen Steuerreform verweigere. Als „abgestandene Vorwürfe“ wies Regierungssprecher Dieter Vogel die SPD- Kritik zurück. Die SPD bewege sich damit unverändert auf „etwas klapprigen Gleisen“.

Das Standortpapier, das die Handschrift des federführenden Wirtschaftsministers Günter Rexrodt (FDP) trägt, ist in zähem Feilschen zwischen den zuständigen Bonner Ministerien ausgehandelt worden. Der Kanzler, Rexrodt, Finanzminister Theo Waigel (CSU) und Arbeitsminister Norbert Blüm (CDU) werden das über 100 Seiten dicke Papier morgen der Presse vorstellen. Der Bericht zielt mit seinen Vorschlägen weit über das Jahr 1994 und die nächste Bundestagswahl hinaus. Erörtert wird ein langer Katalog – von der Verkürzung der Schulzeit über diverse Sparvorschläge bis zu grundsätzlichen Strukturüberlegungen. Die Koalition will an „bewährtem Wertebewußtsein“ anknüpfen und plädiert für eine „neuen Bürgersinn“. Trotz der aufgezählten und beklagten Standortnachteile für die deutsche Wirtschaft sieht das Papier keinen Grund für Pessimismus und ruft auf zu „mehr Mut zur Zukunft“. Neben solchen atmosphärischen Appellen zählt der Bericht eine Reihe bereits bekannter Maßnahmen auf, so die Kürzung der Sozialhilfe, längere Sperrzeiten beim Arbeitslosengeld und Einsparungen bei den öffentlichen Personalausgaben. Zu den grundlegenden Absichtserklärungen zählt die Verpflichtung, den auf über 50 Prozent gestiegenen Anteil der Staatsausgaben am Bruttoinlansprodukt bis zum Ende des Jahrzehnts wieder auf das Niveau vor der Wiedervereinigung zu senken (1989: 45,8 Prozent). Konsequente Privatisierungen werden angekündigt; beabsichtigt sind außerdem Unternehmenssteuersenkungen. Wie bei anderen Punkten fehlt hier die letzte Klarheit: Im nächsten Jahr soll ein entsprechendes Konzept vorgelegt werden.

Umstritten waren insbesondere die über schlichte Kürzungen hinausgehenden Vorschläge zum weiteren Umgang mit den sozialen Sicherungssystemen. In der Rentendiskussion konnte Arbeitsminister Blüm die Wünsche Rexrodts zwar dämpfen: die aktuellen Renten sind laut Bericht sicher. Doch soll auf Dauer der Trend zur Frühverrentung gestoppt werden. Gefordert werden mehr Selbstbeteiligung auch bei der Krankenversicherung und Anreize zum privaten Versicherungsschutz.

Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) sieht im Standortpapier zwar „eine Reihe von mutigen Ansätzen“, wünscht sich aber mehr. Vorrang müsse eine Senkung der Steuer- und Abgabenbelastung der Unternehmen haben. Die Deutsche Angestellten-Gewerkschaft (DAG) hatte den Wunschkatalog des BDI heftig kritisiert. Es sei der „unverhüllte Versuch“, im Windschatten der Wirtschaftsflaute den Sozialstaat zu kippen. Tissy Bruns