Alphabet und Enzyklopädie

Der afrikanische Künstler Frédéric Bruly Bouabré zeigt in Berlin sein „Wissen der Welt“  ■ Von Thomas Fechner-Smarsly

Am Anfang war – nein, nicht das Wort, am Anfang war das Alphabet. Und das Alphabet enthielt nicht nur die Buchstaben, sondern auch die Silben und die Zahlen, die Bilder und die Dinge, so daß sich die ganze Welt darin aufgehoben fand. Aber sein Schöpfer blieb doch nur ein Gefäß für ein höheres Wissen, und seine Schöpfung besaß einen ferneren Ursprung. Denn am Anfang war bekanntlich, nein, nicht das Alphabet, sondern früher noch, als die Erde wüst und leer durchs Universum taumelte – an ihrem Anbeginn also war das Licht.

Frédéric Bruly Bouabré lebt in Afrika, genauer gesagt in Abidjan, der Hauptstadt der Elfenbeinküste. Sein Vater war Zeremonienmeister und Zauberer einer Stammesgruppe der Bété. Bouabré selbst arbeitete unter anderem bei der Zivilverwaltung. Über sein Alter schweigt er sich beharrlich aus, nicht jedoch über den 11. März 1948, denn an jenem Tag hatte er eine Sonnenvision, die sein Leben veränderte. Seither ist er ein chercheur, ein Sucher nach Wissen und universeller Wahrheit, und er betrachtet die Lektüre der Zeichen, die die Welt ausmachen, als seine vornehmste Aufgabe.

Zunächst schrieb er linierte Kladden voll mit Aphorismen oder kurzen Fragmenten. Auf diese Weise entstanden „Le livre des lois divines“ (Das Buch der heiligen Gesetze) oder „Le livre des Saintes Paroles“ (Das Buch der heiligen Worte). Erst in den 50er Jahren begann Bouabré auch zu zeichnen und zu malen. Fortan initiierte er mit Kugelschreiber und Buntstift ein Wechselspiel aus Kalligraphie und Piktogramm, Schrift und Bild, das Kosmologie und Wissenskorpus zugleich sein will, und zwar auf eine Weise, wie man es vergleichsweise am ehesten von den summae, den theologischen und enzyklopädischen Textgebäuden des hohen Mittelalters kennt.

Deren Zweck bestand in der Sammlung von Wissenstraditionen und ihrer Integration in ein Gesamtsystem zum höheren Lobe des Herrn, ein Abbild der Schöpfung in einem Kontext aus Worten. Bouabré verfolgt ein ähnliches Ziel, nämlich die Sammlung des „Wissens der Welt“, wie der Titel eines seiner Zyklen lautet, in einer unerschöpflichen, ständig wachsenden Vorratskammer von bildhaften Repräsentationen.

Im Berliner Haus der Kulturen der Welt läßt sich derzeit dieser Mikrokosmos in – das mag man wohl ohne Übertreibung sagen – der Welt kleinster Großausstellung bewundern: annähernd 1.200 Bilder, die meisten von der Größe einer Postkarte, ergänzt durch einige Texte und Bücher. In den vier kleinen Räumen des Untergeschosses stellt sich die Welt als Zettelkasten dar. Festgehalten im Format 15x9,5 cm, ordnet sie sich zu verschiedenen Komplexen: In einigen werden zentrale Mythen fast im Stile eines Comic strips dargestellt, in anderen „Die Hohe Diplomatie“ der Völker in einer minimalistischen Bildserie aufgezählt – als immer gleiches Shakehands. Das ist von bisweilen umwerfender, aber in dieser Deutlichkeit sicher nicht beabsichtigter Komik, wenn etwa der Amerikaner im rotgestreiften Anzug erscheint, sein blaues Gesicht von weißen Pickeln übersät.

Bouabré hat einen ausgesprochenen Sinn für Humor, aber er versteht seine Bildwelt in erster Linie als eine Bewahrung der afrikanischen Traditionen, und zu diesem Unternehmen fehlt es ihm keineswegs am nötigen Selbstbewußtsein. „Als ein schwarzes Genie das Museum der Elfenbeinküste betrat, musterte es ein ,antikes Monument afrikanischer Kunst‘. Es war an einem Montag, dem 9. Mai 1972, am Vormittag eines Tages ohne Regen und ohne soziale Unruhen. Nach einigen Minuten, als das schwarze Genie das Museum verlassen hatte, begab es sich in sein Malatelier. Dort griff es zu seinem Pinsel und begann die ,piktographischen Bilder der alten menschlichen Sprache‘ zu malen, die ,mit Statuen, auf Statuen und in den Statuen weiterlebt, verewigt und gepriesen wird‘“.

Und das erste Monument der Kunst und der Tradition, auf das sein Blick fällt, ist „ein bemerkenswertes Tam-Tam-Monument, das von einer Frau getragen wird“. In seiner Kladde beschreibt Bouabré präzise das Ding, bevor er auf dem nächsten Blatt eine Abbildung davon anfertigt. Dieser Zusammenhang von Zeichnen und Bezeichnen prägt sein gesamtes Werk.

Ein Schriftband läuft um jede dieser Miniaturen, nicht etwa als deren Übersetzung oder Erläuterung, sondern als deren Präzisierung, wie Bouabré erklärt. Damit stellt er eine Beziehung zwischen Bild und Text her, in welcher, ganz ähnlich der barocken Emblematik, die Hierarchie aufgehoben ist zugunsten eines Wechselspiels. Auf einer Zeichnung umkreisen drei Fische einen merkwürdigen runden Körper, auf dessen Rand horizontale und vertikale Striche eingegraben sind. Die Inschrift lautet kryptisch einfach: „Die freien Verbindungswege in der Welt nach der ,Beherrschung‘ der ,Meere‘“.

Bouabré benutzt, was er in seinem kulturellen Umfeld vorfindet – hier beruft er sich schon im Titel der Serie „Scarifications“ auf Tätowierungen, auf Körperbemalungen. „Ohne sich jemals die Frage des Stils, des Themas, von gut oder nicht gut zu stellen – um die Welt sichtbar zu machen, ist sein Werk umfassend, figurativ, bildlich, objektiv und vielleicht mehr noch absolut“, schreibt André Magnin, der die Ausstellung konzipierte.

Auf unmittelbare Weise wird dies in seinem Alphabet deutlich, das aus mehr als 400 Zeichen besteht und seinen Ursprung in der Phonetik des Bété, also in der gesprochenen Sprache und der oralen Tradition hat. Jeder Laut wird von einer Silbe repräsentiert, der ihrerseits aber schon eine Bedeutung entspricht – und zu der ein Bild gehört: vom „A“, auf dem ein Hund zu sehen ist, bis zum „Wou“ mit der Darstellung zweier Mundpartien. Frédéric Bruly Bouabrés eigener Name, übrigens eine französische Verballhornung seines afrikanischen Namens, setzt sich in dessen Bilderschrift aus der Kombination von Gbeu=Hacke und Li=Speer zusammen. Ein direkte Art der Welterzeugung, der Herstellung von Beziehungen, denn für Bouabré sind Zeichen keine leeren Signifikanten, deren Inhalt arbiträr, also willkürlich und nur durch bloße Übereinkunft, erzielt ist. Vielmehr Teil eines großen Ganzen, in dem alles, aber auch wirklich alles, sich deuten läßt.

Und es verlangt auch nach dieser Deutung, seien es die Form der Wolken oder die Fußspuren der Tiere, gefundene Steine und sogar die Unebenheiten auf einer Kolanuß oder auf der Außenhaut einer Orange. Auf seiner Zeichnung erscheint sie als Notat über einen Zustand wie als beständig sich wandelnde Figur. Nicht unähnlich einem Planeten, der in einem grünen All schwimmt, assoziiert man als Betrachter die Entwicklung des Protoplasmas oder das Resultat eines Meteoriteneinschlags – auf den Bildern gehen Mikrokosmos und Makrokosmos letztlich ineinander über.

Bouabré erfüllt eine Mission. Seine Arbeit rekonstruiert „ein Bezugsnetz, in das der Mensch eingebunden ist, einen Kreislauf, in dem nichts verlorengeht“ (Günter Metken). Sein religiöser Synkretismus amalgamiert Christentum, Islam und afrikanische Religion, sein Gedächtnis der Bilder und Personen verzeichnet alles, Vogelbilder und Frauenporträts, ein amerikanisches Militärflugzeug neben einem Schallplatten-Logo, Signorellis Dante-Porträt neben solchen von Eisenhower und Stalin, Robespierre und Machiavelli, Montgomery Clift und — ziemlich überraschend — Kardinal Ratzinger. Ein Sammelsurium, ein Kaleidoskop, eine naive Kopie der Informationswelt, getragen von einem unberechenbaren Reflex des Bewahrens.

Im individuellen System Frédéric Bruly Bouabrés, so scheint es, kulminiert ein Absolutheitsanspruch des Wissens. Aber dieses Wissen geht durch Bouabrés Zeichnungscode hindurch, wird durch ihn verwandelt. Als Kunst erhält es seinen humanen, geradezu persönlichen Zug, doch selbst hier bewahrt es seinen hohen Anspruch: „Kunst ist überall und in allem, sie ist das Wissen, etwas richtig zu machen.“

Die Ausstellung mit Bildern von Frédéric Bruly Bouabré läuft noch bis zum 3. Oktober im Haus der Kulturen der Welt, Berlin, Tiergarten. Danach ist sie im Ludwig Forum für internationale Kunst in Aachen zu sehen.

Öffnungszeiten: Di.–Do. 14–18, Fr.–So. 10–20 Uhr.

Der Katalog kostet 38 DM.