Bis auch der letzte Bär gestorben ist

Umweltschützer und Bewohner streiten um eine Schnellstraße und einen Tunnel durch die Pyrenäen  ■ Aus dem Aspe-Tal Bettina Kaps

Schon wieder soll sie ein Bekenntnis ablegen! Mireille hat die Fragerei satt. „Ich kann ja kein Brot einkaufen, ohne daß ich gefragt werde, ob ich nun für oder gegen den verdammten Tunnel bin. Die Stimmung im Tal ist unerträglich.“ Für mich, sagt sie dann doch noch, bringen der Ausbau der Straße und der Tunnel keine Verbesserung, im Gegenteil: „Ich bin nur deshalb in diese abgeschiedene Gegend gezogen, weil ich Ruhe und Natur gesucht habe.“

Die 35jährige lebt seit sieben Jahren in Accous, einem kleinen Dorf im Aspe-Tal, das die südfranzösische Stadt Pau mit dem 90 Kilometer entfernten spanischen Grenzort Canfranc verbindet. Das Tal ist V-förmig von bis zu 2.600 Meter hohen Pyrenäen-Gipfeln eingekeilt. Landwirtschaft ist hier mühsam, und der Beruf des Schäfers, der den ganzen Sommer auf einer abgelegenen Alm verbringen muß, reizt die jungen Leute nicht. Da es, abgesehen von einer Aluminiumfabrik mit hundert ArbeiterInnen, keine Industrie gibt, ziehen die Menschen fort in die Städte.

Die dreizehn Dörfer haben in diesem Jahrhundert drei Viertel ihrer Einwohner verloren, heute leben noch 2.860 Menschen hier (wobei die jüngste Volkszählung erstmals eine Trendwende verzeichnete). Deshalb ist das Tal bis heute wild und kaum berührt, und deshalb konnten in dieser Gegend auch die letzten acht oder zehn Braunbären der Pyrenäen überleben, wachsen hier viele geschützte Pflanzen, sollen hier noch Königsadler nisten. Doch nur die Gipfel entlang der spanischen Grenze sind als Nationalpark geschützt. Jetzt soll durch diese Gebirgsoase eine Europastraße geführt werden. Der geplante Autotunnel unterhalb des Somport-Passes wäre nach Hendaye, Le Perthus und Puymorens die vierte große Verbindung nach Spanien.

Mireille ist alles andere als eine typische écolo, ein Öko-Freak. Zusammen mit Freunden hat sie eine Schule zum Drachenfliegen und einen kleinen Laden für modische Sportartikel eröffnet. Das Geschäft läuft gut, schließlich ist es bislang die einzige künstliche Attraktion im Tal. Daneben gibt es nur noch einen Verleih für Mountainbikes. An diesem heißen Augusttag blähen sich ein Dutzend Gleitschirme zwischen den grünen Berghängen. Die acht Betreiber können das ganze Jahr davon leben, „daß Städter eine friedliche Gegend suchen“. Mireille ist sicher, daß allein solch „grüner Tourismus“ dem Tal eine wirtschaftliche Zukunft garantieren kann.

Vergiftete Atmosphäre

Dennoch möchte sie nicht offen Position beziehen, um den schwierigen Kontakt zu den Alteingesessenen nicht zu belasten. Denn das Tunnelprojekt ist Zankapfel des Aspe-Tals geworden und hat die reine Atmosphäre völlig vergiftet.

Elf der dreizehn Bürgermeister sind ohne Wenn und Aber für den geplanten Bau und versprechen sich davon wirtschaftlichen Aufschwung. „Jetzt stehen wir doch mit dem Rücken zur Wand, denn die Pyrenäen sind eine fürchterliche Schranke“, sagt Bernard Sarrailler, Bürgermeister des 89-Seelen-Dorfes Cette-Eygun. „Durch eine gute Straßenverbindung könnten wir von der spanischen Dynamik profitieren.“

Er liebe sein Tal, wie könne er da für ein schädliches Projekt eintreten? Die Bären könnten nur dann gerettet werden, wenn auch die Menschen im Tal überlebten, meint Sarrailler und kehrt damit ein Sprichwort um, das besagt: Wenn der letzte Bär gestorben ist, dann ist auch das Tal tot. Die meisten Talbewohner folgen ihren fortschrittsgläubigen Honoratioren kritiklos. Kaum einer fragt sich, was für Arbeitsplätze eine Schnellstraße – abgesehen von ein paar Fernfahrer-Imbißstuben – denn schaffen würde. Nur von einem ehemaligen Bahnhof, der zu der alternativen Herberge und Kneipe la Goutte d'Eau (Wassertropfen) ausgebaut wurde, ist Widerstand ausgegangen: Dort, wenige Kilometer vom Somport-Paß entfernt, lebt der 40jährige Bergführer Eric Pétetin (Portrait auf dieser Seite). Vor fünf Jahren, als die Behörden die erste Studie über die Machbarkeit des Tunnels bestellt hatten, war Pétetin als erster auf die Absichten der Behörden aufmerksam geworden. Seither warnt er „vor der Vergewaltigung des Tales“: ein Tunnel werde dieses Paradies in eine reine LKW- Schneise verwandeln. Inzwischen konnte der Outsider einige hundert Talbewohner von der Gefahr des Projektes überzeugen.

„Eric ist ein Visionär, er hat uns die Augen geöffnet“, sagt Jean- Pierre Bergès. Der Arzt aus Accous hat vor zwei Jahren ein „Komitee der Einwohner für das Leben im Aspe-Tal“ gegründet, das 500 Mitglieder zählt. Auch der Kneipenbesitzer des Nachbarortes Bedous zollt Pétetin Anerkennung: „Ohne ihn gäbe es den Tunnel längst. Normalerweise wäre der Bau durchgegangen wie ein Brief auf der Post.“

Die alten Leute, die auf der Bank des Parkplatzes auf den Einbruch der Nacht warten, werten Pétetins Engagement ganz anders: „Der verbreitet doch nur Scheiße“, sagt der Mann aggressiv, und die Frauen stimmen ein: „Natürlich wollen wir hier einen Tunnel haben. Auf der spanischen Seite sind die Anschlüsse schon fertig. Es wird Zeit, daß wir auch so schöne und schnelle Straßen kriegen wie die!“

Bereits seit Napoleon III zieht sich die – damals „kaiserliche“ – heute „nationale“ Straße 134 entlang des Wildbachs Aspe durch das Tal. In der ersten Hälfte ist sie gut ausgebaut. Bei Sarrance zeugen zwei pyramidenartig zurechtgesprengte Felsentrümmer links und rechts der Fahrbahn von der jüngsten Modernisierung. Tiefer im Tal und bis zum 1.632 Meter hohen Paß hinauf, da beugt sich die Fahrbahn noch weitgehend der Natur, folgt dem Auf und Ab der Berglandschaft, weicht den Felsen aus, zieht die Kurven des Wildbaches Aspe nach und führt mitten durch die Dörfer, deren Anbindung sie ja dient.

Was unter Napoleon ein Privileg war, wird heute zur Plage: Zu Stoßzeiten zerschneidet der Verkehr die Orte Bedous, Eygun, Etsaut und Urdos. In Etsaut bleibt den Häusern an der Durchgangsstraße nicht einmal Platz für einen Fußabstreifer, so dicht donnern rund 200 Laster täglich an den Haustüren vorbei. Daß die Straße hier verbessert und um die Dörfer herumgeführt werden muß, ist unumstritten. „Niemand will die RN 134 so lassen, wie sie ist“, sagt auch André Etchelecou, Professor für Bodenplanung und Geographie in Pau, der vehement gegen das Tunnelprojekt kämpft.

Doch er mißtraut den eigentlichen Absichten der Auto-Lobby. „Ein Tunnel würde wie ein Luftzug wirken. Die geplante Tunnelbreite von neun Metern kann jährlich, ohne daß es zu Staus kommt, eine Million Lastwagen durchlassen, das entspricht 2.700 LKWs täglich.“ Über kurz oder lang werde dann eine Schnellstraße oder eine Autobahn das Tal zugrunde richten.

„Die Idee zu einer besseren Straßenverbindung zwischen Pau, Canfranc und Zaragoza, zwischen der französischen Region Aquitaine also und dem spanischen Aragonien, ging vor fünf Jahren von den beiden Regierungen aus“, erinnert sich Jean-Pierre Forgerit, Leiter des Amtes für die Infrastruktur im Département Pyrénées-Atlantiques in Pau.

Weitere Asphaltpläne

Paris und Madrid denken in großen Achsen, sie wollen Hindernisse beseitigen, die Reisenden und vor allem Händlern im Wege stehen. Diese Logik überzeugte auch die Europapolitiker in Brüssel: Im November 1990 beschloß die EG, 25 Prozent der Kosten (rund 30 Millionen Mark) für den 8,6 Kilometer langen Tunnel zu übernehmen. Die Achse wurde mit dem Etikett Europastraße „E 7“ versehen. An weitergehenden Asphaltplänen mangelt es auch nicht: Zaragoza soll schon nächstes Jahr vierspurig mit Madrid verbunden sein.

Frankreich liebäugelt mit einer Autobahn von Bordeaux nach Pau. Eine Autobahn zwischen Pau und Oleron, der kleinen Stadt am Eingang des Aspe-Tals, ist bereits beschlossen. Und da soll das Tal selbst mit seinem Autotunnel ein Nadelöhr bleiben?

Den Verdacht, daß sie eigentlich eine Autobahn im Schilde führen, weisen die Verfechter des Tunnels empört von sich. „Unsere Studien haben bewiesen, daß ein Straßentunnel den Verkehr nicht entschieden verändern wird“, sagt Forgerit. „95 Prozent des Warenverkehrs zwischen Frankreich und Spanien laufen am Meer entlang. Warum sollte sich das ändern? Hier geht es nur darum, den Regionalverkehr zu erleichtern.“ Deshalb werde der Verkehr von heute 200 Lastern täglich bis zum Jahr 2013 auch nur auf 500 LKWs anwachsen, so die Berechnungen seiner Behörde, die der Tunnelgegner und Planungsexperte Etchelecou jedoch kategorisch zurückweist: „Das ist eine Lüge. Der geplante Tunnel ist mit neun Metern so breit, daß er nach den Berechnungen technischer Experten eine Million LKWs im Jahr ohne Staugefahr durchlassen kann. Das entspricht 2.700 Schwerlastern pro Tag. Zudem gibt es Stellungnahmen des Regionalrates, der Industrie- und Handelskammer und des spanischen Verkehrsministeriums, die alle darauf hinweisen, daß die Option auf eine vierspurige Straße oder eine Autobahn von Bordeaux bis Valencia besteht.“

Die Straßengegner sehen eine – nach ihren Rechnungen viel billigere – Alternative: Sie fordern die Instandsetzung der Zuglinie, die Pau und Canfranc seit 1928 verbindet. Die Strecke ist ein bauliches Meisterwerk aus grauem Naturstein, die die Talbewohner damals unter unsäglichen Mühen gebaut haben. Sie führt ebenfalls durch einen Tunnel unterhalb des Somport-Passes und mündet in Canfranc in einen prächtigen, reich verzierten Bahnhof mit zwanzig Gleisen, die das Unkraut überwuchert.

Heute verkehren hier nur zwei Züge täglich, denn nach Frankreich hin ist die Strecke tot: Die SNCF hatte es 1970 abgelehnt, eine eingestürzte Brücke zu reparieren, weil die Linie unrentabel sei. Nach Rechnung der Tunnelgegner könnten drei Züge die Ladung von 1.000 LKWs transportieren; auch ein Schienentransport der LKWs selbst sei eine zeitgemäße Lösung. Diese Ideen haben jedoch keine Lobby.

Als die Bauarbeiten für den Tunnel im vergangenen Jahr begannen, leistete Pétetin mit „Alternativen“ aus aller Welt Widerstand. Das Komitee der Einwohner kämpfte auf legalem Weg und konnte im November 1992 einen großen Erfolg verbuchen: Das Verwaltungsgericht in Pau annullierte die erste Erklärung des öffentlichen Nutzens, weil der Staat keine Umweltstudie erstellt hatte. Zudem hat die EG ihre Subventionen vorübergehend „suspendiert“. Seither ruht die Baustelle, doch der Staat holte seine Versäumnisse in Rekordzeit nach. Jetzt ist es nur noch eine Frage von Tagen, bis Verkehrsminister Bernard Bosson und Umweltminister Michel Barnier erneut grünes Licht geben werden. 1996 soll der Tunnel fertig sein. Im Aspe-Tal gibt es heute schon einen kleinen Zoo mit zwei Braunbären.