In Rußland blüht die Streitkultur

Durfte Jelzin seinen Stellvertreter Ruzkoi und Vizepremier Schumejko zeitweilig entlassen? Warum durfte er und wozu? Über Winkelzüge, die kaum ein Mensch mehr versteht  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

„Bei uns verwandelt sich jeder politische Streit schnell in eine Prügelei unter zwei oder drei Recken“, äußerte neulich Gorbatschows graue Eminenz Georgij Schachnasarow zum aktuellen Geschehen in Rußland. Wenn man aber der amtlichen Begründung glauben will, so besteht das indirekte Ziel des vorgestrigen Erlasses von Präsident Boris Jelzin, der seinen Vize Alexander Ruzkoi und Vizepremier Wladimir Schumejko auf Zeit von ihren Posten entfernte, eben darin: die Politik im Lande von der Ebene der Personalisierungen, Verleumdungen und Intrigen wieder auf das Feld der sachlichen Argumente zurückzuführen. Ob dies mit einem solchen Mittel erreicht werden kann, bezweifeln seit nunmehr zwei Tagen in Moskau Kommentatoren aus allen politischen Lagern.

Ganz abgesehen davon ist in bezug auf Alexander Ruzkoi auch der primäre Zweck nicht erreicht worden: der Betroffene erklärte, ebenso wie Parlamentspräsident Chasbulatow, den Ukas schlicht für verfassungswidrig und arbeitet ungerührt weiter. Was den Vorwurf betrifft, seine und Schumejkos gegenseitige Anschuldigungen schadeten dem Staate, so besteht er darauf, Schumejko gar nicht beleidigt zu haben.

Was die verfassungsmäßige Rechtmäßigkeit des Präsidenten- Ukasses betrifft, so gibt es dazu inzwischen eine ganze Reihe von wohlwollenden Expertisen. Sie folgen der Logik, daß der gegenwärtigen Gesetzgebung zufolge der Präsident die Aufgaben des Vizepräsidenten zu definieren hat. Eine „zeitweilige“ Entbindung des letzteren von seinen Pflichten ist nirgendwo erwähnt. Es handelt sich also um einen weißen Fleck. Der Schluß dieser Argumentation lautet: Boris Jelzin rudert in Gewässern, die nicht mehr in den Hoheitsbereich der Verfassung fallen.

Ganz ungesetzlich ist der Ukas also nicht, aber legitim ist er auch nicht. Denn es steht in der geltenden Verfassung schwarz auf weiß, daß der Vizepräsident ebenso wie der Präsident selbst nur auf dem Weg eines formellen Amtsenthebungsverfahrens durch den Kongreß der Volksdeputierten aus dem Amt entfernt werden kann. Aber nun von den Buchstaben zum Geist der Verfassung: daß ein Vizepräsident zu Lebzeiten seines Präsidenten eine abweichende und eigenständige politische Linie verfolgen kann, wie Ruzkoi es in den letzten Monaten tat, ist in keinem Land der Welt vorgesehen. Er selbst beruft sich dabei darauf, daß er vom Präsidenten-Stab selbst aus der Politik ausgebootet wurde. Seit Mai entband Jelzin ihn von allen Sonderaufgaben, hörte auf, sich von ihm in Abwesenheit vertreten zu lassen und vertagte die Sitzungen des Sicherheitsrates, auf denen der Vizepräsident anwesend zu sein hat. Eine Deputierten- Gruppe im Obersten Sowjet klagte deshalb bereits vor dem Verfassungsgericht. Dessen Sprecher reagierte am Mittwoch auf Anfragen von Journalisten schläfrig: Die Richter seien erst einmal damit befaßt, die Bearbeitungsreihenfolge der vielen vorliegenden Anträge zu definieren.

Natürlich könnte Boris Jelzin bei seinem jetzigen Vorgehen auf mehr Verständnis rechnen, wenn schon eine andere Verfassungsklage vorläge: nämlich aufgrund der Vorwürfe einer Untersuchungskommission, Ruzkoi unterhalte ein Konto in der Schweiz und sei unsittlich mit der Firma SEABEKO liiert. Aber obwohl die mit diesem Fall befaßten Untersuchungsrichter der Moskauer Staatsanwaltschaft schon seit einer Woche in ihrem Dienstgebäude nächtigen, haben sie noch keine Klarheit errungen.

Inzwischen erleidet die Staatsmacht weiterhin Schaden, und nicht nur sie, sondern auch Präsident Jelzin selbst. Die Tageszeitung Nesawisimaja Gaseta veröffentlichte gestern ihre allmonatliche Umfrage zur Beliebtheit von einhundert führenden Politikern Rußlands und konstatierte, daß der Einfluß der Mannschaft des Präsidenten auf die politische Situation in Rußland nachgelassen hat. Im großen und ganzen, heißt es in dem Artikel, habe sich das Gleichgewicht im Kampf zwischen Legislative und Exekutive wieder so hergestellt, wie es schon vor dem April-Referendum bestand.

Nicht zur Gewaltanwendung, wohl aber zu revolutionären Maßnahmen, meinen indessen die Parteigänger Jelzins, sei es jetzt an der Zeit. So schreibt der Politologe Alexej Kiwa in der Iswestija: „Die Maßnahme des Präsidenten ist ohne Zweifel eine außerordentliche, aber auch die Situation, in der wir uns befinden, ist nicht alltäglich. Die heutige Situation in das Schema legitim-illegitim zu zwingen ist meiner Ansicht nach nicht produktiv – denn nach dem August 1991 nahm der Entwicklungsprozeß unserer Gesellschaft eher revolutionäre Formen an. Was bedeuten Legitimität/Illegitimität im Rahmen der alten Verfassung, die schon fast automatisch eine Doppelherrschaft gebiert? Was bedeutet Legitimität, wenn ihre Beachtung zum Zerfall des States und, Gott möge es verhüten, zum Bürgerkrieg führt?“

Kein Wunder, wenn Chasbulatow und die oppositionellen Parlamentarier sich bedroht fühlen. Nach ihrem Szenarium wird es wahrscheinlich erst einmal bei einer heute beginnenden Sitzung des Obersten Sowjet weitergehen. Der Leiter der oppositionellen Fraktion „Russische Einheit“ und Vorsitzende der Verfassungs-Arbeitsgruppe beschreibt seine Pläne folgendermaßen: „Der Oberste Sowjet soll zuallerst einmal die Wirkung des Präsidenten-Ukasses aufheben. Dazu hat er das Recht. Danach müssen wir unseren Antrag an das Verfassungsgericht bekräftigen und es ersuchen, den Präsidenten-Ukas als nicht der Konstitution entsprechend abzulehnen.“

Und nun zurück zu der Anfangsfrage, was der Präsident denn mit seinem hitzigen Ukas tatsächlich bewirken wollte. Vielleicht ist es nützlich, an den März zurückzudenken, als Boris Jelzin durch die Ankündigung eines dann doch nicht realisierten Ausnahmezustandes Freunde, Pseudofreunde und Gegner zwang, eilig Farbe zu bekennen. Nicht auszuschließen ist daher, daß der russische Präsident, im Einklang mit seiner impulsiven Natur, sich diesmal wieder zu einer Provokation entschlossen hat, damit die Parlamentarier ihrem Vorsitzenden Chasbulatow durchgehen und auf einem Schritt bestehen, den dieser seit Mai zu verhindern sucht: auf Einberufung eines Kongresses der Volksdeputierten, zum ersten Mal seit Dezember 1991.

Nur dieser kann nämlich ein Impeachment gegen Jelzin inszenieren. Aber nur der Kongreß kann auch eine neue Verfassung beschließen – oder gar sich selbst liquidieren.