Lieber Völkermord oder lieber Uno-Krieg?

■ Für Bosnien gibt es keine unschuldigen Antworten / An den schlechten Alternativen zerbricht die westdeutsche Friedensbewegung

Lieber Völkermord oder lieber Uno-Krieg?

Für Bosnien gibt es keine unschuldigen Antworten / An den schlechten Alternativen zerbricht die westdeutsche Friedensbewegung

Zwei Dutzend Menschen saßen am 1. September im DGB- Haus, Bosnier, Kurden, Grüne, Sozialdemokraten, „Antifaschisten“, treue Freunde und skeptische Weggefährten des untergegangenen Sowjet-Blocks. Sie alle hätten vor fünf oder zehn Jahren trotz aller politischen Differenzen sich in der Ablehnung der militärischen Aufrüstung einig gewußt und gemeinsam für Frieden demonstriert.

Und heute? Heute sitzen sie in einem Raum zusammen, am Tag des deutschen Überfalls aus Polen 1939, duzen sich wie in der guten alten Zeit und haben, wenn sie ihre Haltung zu dem Krieg in Südosteuropa, im ehemaligen „Vielvölkerstaat Jugoslawien“ formulieren, nichts mehr miteinander zu tun. Nichts. Ich formuliere das absichtlich so schroff, nicht als pädagogische Vereinfachung, sondern weil es die intellektuelle Redlichkeit gebietet.

Für die einen, in Bremen unermüdlich vertreten durch die Grüne Marieluise Beck, haben die programmatischen ethnischen Säuberungen in Bosnien und die systematische Vertreibung und Vernichtung der Muslime weitreichende Parallelen zur Vernichtungsstrategie der Nazis. Sie verweist auf den Bund jüdischer Verfolgter des Naziregimes, für den Simon Wiesenthal in einem Aufruf formuliert hat: „Als Überlebender des Naziregimes, der mehrere Jahre der Unfreiheit im Ghetto und in Konzentrationslagern verbringen mußte, kann ich dieses Schweigen nicht mehr verstehen...“

Pazifistische Grundsätze — taktisch mißbraucht

Auf der anderen Seite sitzen die, die in ihrem Aufruf zum „Antikriegstag“ zu dem Völkermord in Bosnien schweigen.

Die einen sagen: „Wer im umfassenden Sinne Frieden schaffen will, der darf dies nicht mit militärischen Mitteln versuchen.“ Die anderen sagen: Durfte die Sowjetunion sich nicht (nachdem sie erst gegen Polen mit Hitler paktiert hatte) „mit militärischen Mitteln“ gegen die vorrückenden deutschen Nazi-Truppen wehren? Durften die Engländer und die USA nicht gegen die Nazis mit militärischen Mitteln den Frieden erzwungen? Was bedeutet der Grundsatz: „nicht mit militärischen Mitteln“ für die deutsche Geschichte dieses Jahrhunderts? Der Grundsatz ist offenbar nicht so gemeint. So grundsätzlich argumentiert die „Friedensbewegung“ nur nach der einen Seite. Der scheinbare Grundsatz gilt jetzt für die Bosnier, er gilt nicht für diverse Befreiungsbewegungen und auch nicht für die Sowjetunion.

Die einen (Marieluise Beck) sagen: Die Teilungs-, „Friedens- “oder Waffenstillstandspläne der Uno sanktionieren nur das, was die serbischen Kriegsverbrecher mit militärischer Gewalt erzwungen haben. Eine Uno, die sich auf den Einsatz ihrer militärischen Macht verzichtet, macht sich zum Instrument anderer militärischer Gewalt (zum Instrument der militärischen Sieger). Die historische Parallele ist klar: Die Apeasement-Politik, die Hitlers Einmarsch in der Tschecheslowakei diplomatisch sanktionierte. Und Hitler ermutigte.

Was tun für Bosnien? Die DGB-Vorsitzende Helga Ziegert warnt vor der Einteilung in „Gut und Böse“, sie verwahrt sich gegen die, die „Serbien zur feindlichen Macht hochstilisieren und die anderen zum Opfer machen“. Und sie insistiert darauf, daß „militärische Gewalt nicht geeignet ist, Kriege, deren Ursachen sozial sind, zu beseitigen“.

Ich finde es intellektuell unredlich, nicht auszusprechen, daß das eine Antwort implizit bedeutet auf die Frage: „Was tun für Bosnien?“ Es bedeutet: Wir tun nichts für Bosnien. Es bedeutet: Wir schweigen dazu. Uns ist der Grundsatz: „Gegen die Militarisierung der Außenpolitik“ zu wichtig, um dem Versuch zustimmen zu können, durch militärische Uno-Gewalt den Völkermord zu beenden.

Humanitäre Hilfe und

sonst nichts?

Die Frage: „Was tun für Bosnien?“ interpretiere ich bewußt nicht als Frage nach dem Roten Kreuz. Natürlich kann und muß man Geld sammeln, Flüchtlinge aufnehmen und den Menschen, die ohne Strom und Wasser und Nahrungsmittel sind, unmittelbar zu helfen versuchen. Das ist nicht kontrovers. Aber es ändert am Völkermord nichts, es beendet den Krieg nicht. Wenn es die Antwort auf die Frage „Was tun für Biosnien?“ überspielen und verdrängen soll, ist es sogar zynisch. Auch wenn die Hilfstransporte mit militärischem Schutz durch die serbischen Posten wenigstens hin zu den hungernden und medizinisch unversorgten Bosniern gebracht werden, wie Mariluiese Beck das fordert, beendet das den Krieg nicht. Es verhindert nicht die Aushungerungsstrategie der jugoslawisch-serbischen Armee, es stoppt die Vertreibung nicht. Die Sowjetunion hat 1942 nicht das Rote Kreuz in die von den Nazitruppen besetzte Ukraine geschickt, sondern die Rote Armee — vor den humanitären Hilfen wären die Nazitruppen nicht gewichen. Klar: Die militärischen Annexionspläne der Nazis sind mit denen der Serben nicht vergleichbar, aber das Risiko des militärischen Kampfes gegen die deutsche Armee war genauso unvergleichlich größer als das einer militärischen Beendigung des serbischen Völkermordens.

Die Bosnier haben doch auch... Ja, sie sind keine Engel. Sie haben politische Fehler gemacht und führen einen blutigen Krieg zu ihrer Verteidigung. Diejenigen, die heute sagen: „Die Bosnier haben doch auch...“ würden aber der Sowjetunion nie das Recht absprechen, sich militärisch gegen die Nazis zu verteidigen, nur weil sie vorher mit Hitler paktiert hat (und Widerstandskämpfer auslieferte) oder weil sowjetische Soldaten massenhaft vergewaltigt haben. War Stalin „gut“? Jeder Krieg ist furchtbar und dennoch gibt es einmarschierende Soldaten-Mörder und sich und ihre Familien verteidigende Soldaten-Mörder.

Die Weigerung, im ehemaligen Jugoslawien zwischen Tätern und Opfern zu unterscheiden, zwischen Angreifern und Verteidigern, hat eindeutige politische Hintergründe. Die alte Waffenbrüderschaft zwischen der Sowjetarmee und der Jugoslawisch- serbischen Armee wirkt fort in den Warnungen Rußlands, den serbischen Vormarsch militärisch zu stoppen. Die heutige serbische politische Elite ist nicht aus der Revolte gegen die kommunistische Herrschaft hervorgegangen, sondern bedeutet Kontinuität. Das prägt Parteilichkeiten in der westdeutschen Friedensbewegung, die nahtlos an die Konflikte über die osteuropäischen Staaten anknüpfen. Und deshalb verweist Marieluise Beck darauf, das der agressive und ethnisch argumentierende Rassismus vor Jahren im Jugoslawien des Bundes der Kommunisten begonnen hat.

Auch wer „nur“ schweigt,

bekennt sich

Sich aber am 1. September hinzustellen und abstrakt für Gewaltfreiheit und gegen militärische Außenpolitik zu demonstrieren, das bedeutet für Bosnien konkret: Nicht intervenieren, die Serben marschieren lassen. Die Risiken des Völkermordes an den muslimischen Bosniern geringer bewerten als die Risiken eines militärischen Uno-Eingriffs.

Da dies niemand im Namen des „Antifaschismus“ und des Friedens so deutlich sagen kann, wird zu Bosnien konkret geschwiegen. Das ist das Dilemma der Friedensbewegung, an dem sie zerbrochen ist: Es gibt zu Bosnien keine moralisch unanfechtbare Position. Wir stecken unseren Groschen in die Rote Kreuz- Büchse und müssen, wenn es um die politische Debatte einer Weltordnung geht, doch auf die Frage antworten: Wollen wir lieber den Völkermord in Bosnien oder lieber eine dort militärisch eingreifende Uno?

Auch die rein militärtaktische Position, wie es General Altenburg vor einem Jahr in einer taz- Debatte (im Kito) vertreten hat (ein Eingreifen würde mehr Opfer kosten und keinen Waffenstillstand erzwingen können) hat die implizite Konsequenz: Dann lieber die Serben machen lassen. Hätten die Engländer 1942 sagen sollen: Da sind zu viele unübersichtliche Hügel in Deutschland, wir beteiligen uns vorsichtshalber nicht am Krieg gegen das nationalsozialistische Deutschland?

Für Bosnien keine Antwort

Aber die „Friedensbewegung“ argumentiert nicht militärtaktisch, sondern grundsätzlich. An vielen Stellen des 1. September- Aufrufs hat sich die prinzipielle Nord-Süd-Argumentation des Leiters des Amtes für Entwicklungszusammenarbeit, Gunter Hilliges, niedergeschlagen. Nur wirtschaftliche Gerechtigkeit im Nord-Süd-Gefälle kann Frieden bringen. Indien, Südafrika, Brasilien, überall drohen oder schwelen schon furchtbare soziale Konflikte. Unvorstellbar, daß die Uno überall Weltpolizei spielt. „Wir müssen das entsetzliche Leiden nutzbar machen“, insbesondere in 19 bevorstehenden Wahlkämpfen, so sagt Hilliges, um das Thema in die Köpfe zu bringen: „Sicherheit darf nicht militärisch, sondern muß politisch, ökonomisch, kulturell und demokratisch verstanden werden.“ 40 Initiativen gibt es in Bremen, die — vom gerechten Kaffepreis bis zum Tropenholz-Boykott sich dafür engagieren, immerhin. „Wahnsinnig schwierige kleine Schritte“ stehen an.

Das sind plausible und richtige Sätze. Aber: Was sagen sie zu den Bosniern? Hilliges kam von sich aus in der Diskussion nicht auf das Thema. Es ist „gegen Waffenhilfe, dann wird alles schlimmer, dauert alles länger als sonst“. Deeskalation sei der richtige Weg. Was heißt das alles für die Bosnier? Hilliges gesteht schließlich: „Ich habe jetzt nicht für Bosnien konkrete Antworten.“

Die Uno-Strategie gründet sich auf exakt diese Position. Und das bedeutet: Lieber keine Uno- Militäraktion, lieber serbischer Völkermord. Klaus Wolschner