Schlaflose Nächte im Paradies

■ Gespräch mit einem Bewohner Anjunas (Goa) über die touristische Entwicklung des Ortes

Wie begann der Tourismus hier in der Gegend?

1970 kamen die ersten drei Hippies nach Anjuna. Viele von uns fragten sich, wie die es sich leisten können, bis um Mitternacht im Restaurant zu sitzen, ohne tagsüber Geld zu verdienen. Aber man gewöhnte sich schnell an diese Leute mit den langen Haaren, den zerrissenen Hosen, die meist barfuß gingen, obwohl sie genügend Geld für Schuhe gehabt hätten. Zu den anfänglich wenigen Hütten am Strand kamen immer mehr dazu, und die ersten wirklichen Probleme traten auf: Es gab keine Toiletten in Anjuna. Bald lagen überall menschliche Exkremente und Klopapier herum. Da wir Angst um unsere Gesundheit hatten, baten wir die jungen Leute, mehr ins Landesinnere zur Toilette zu gehen, an Stellen, die wir selbst auch benutzten. Das und die Drogen waren unsere Probleme mit den Hippies von Anfang an.

Aber Sie haben 1972 selbst eine Bar eröffnet?

Ja, ich hatte einige Freunde unter den Touristen, und die jungen Europäer und Amerikaner trinken gerne unseren Feny (Kokosnußschnaps), deshalb habe ich mich auch um eine Barlizenz bemüht. Zu der Zeit wohnten so etwa vierzig bis fünfzig Touristen in Anjuna. Dann, so etwa 1974, begann der Hippie-Flohmarkt vor unserer Haustür.

Was stört Sie an dem Markt?

Sehen Sie, zum Flohmarkt kommen jeden Mittwoch Tausende Touristen. In der Zwischenzeit ist er eine richtige Touristenattraktion geworden. Jeden Mittwoch kommt unser Dorfleben deshalb total durcheinander. Die Straße zum Flohmarkt zum Beispiel ist so eng, daß die Kinder auf ihrem Schulweg sehr gefährdet sind. Es gab schon viele Unfälle. Beim Flohmarkt gibt es keine richtigen sanitären Anlagen: Das müssen Sie sich einmal vorstellen! Bei den vielen Menschen. Ungeziefer, vor allem Moskitos, werden vom Dreck und vom schlechten Geruch angezogen, und Krankheiten breiten sich dadurch aus. Wir wehren uns auch gegen den Flohmarkt, weil dort viel zuviel Rauschgift gehandelt wird.

Gibt es so etwas wie eine Drogenmafia in Goa?

Ja, es gibt hier eine richtige Drogenmafia. Einige Landsleute haben da ihre Finger drin, aber hauptsächlich wird das Drogengeschäft von Ausländern kontrolliert. Erst mit den harten Drogen stiegen die Preise ins Phantastische: Ein Gramm aus Südamerika importiertes Kokain kostet beispielsweise 2.500 Rupien (etwa 85 Mark), davon gehen 2.000 Rupien an den Großhändler, und 500 Rupien bekommt der Zwischenhändler – kein Wunder also, daß sich viele Jugendliche sagen: Warum soll ich arbeiten, wenn ich auch so an Geld kommen kann. Das Drogenproblem wuchs uns über den Kopf, und wir hatten vor allem auch Angst, daß unsere eigenen Kinder mit reingezogen werden könnten. Deshalb machten wir eine Eingabe bei unserer Regierung und baten darum, daß der Flohmarkt und diese Parties verboten werden sollten.

Was hat es denn mit den Parties auf sich?

In den siebziger Jahren waren sie noch schön. Jemand spielte Gitarre am Strand. Die jungen Leute rauchten Haschisch oder Marihuana dazu. Es wurde getanzt und gelacht. Dann ging es mit den regelmäßigen Vollmondparties los. Auch das ging noch; einmal im Monat kann man eine schlaflose Nacht schon wegstecken. Aber jetzt sind laufend Parties, die die ganze Nacht über gehen. Sie fangen um Mitternacht an und enden morgens so gegen 8 Uhr. Die Musik macht uns verrückt. Aus riesigen Lautsprecherboxen hämmert etwas wie Trommeln – kaum andere Instrumente und kein Gesang sind zu hören. Sie nennen es „Techno-Sound“ oder „Acid-Musik“, und so hört es sich auch an: Musik wie aus einem Computer.

Wer organisiert die Parties?

Es müssen Leute sein, die schon ordentlich Geld haben. Wer sonst kann bis zu 25.000 Rupien (etwa 850 Mark) für die Organisation, für den Aufbau der Musikanlage und den Einsatz der Getränke aufbringen. Allein das „Palmöl“ (Schmiergeld) für die örtliche Polizei kostet eine stolze Summe. Aber verdient wird dann auch ordentlich. Bis zu 100.000 Rupien werden pro Nacht umgesetzt. Ich dagegen setze im Jahr nur 25.000 Rupien um. Die Verkaufsstände für Bier und Schnaps sind richtig gut geführte kleine Unternehmen mit Aufpassern im Hintergrund. Typisch ist, daß die legalen Bars, wie ich eine betreibe, nur zwischen 9 und 23 Uhr Konzessionen zum Ausschank von harten Getränken haben, auf den Parties dagegen wird Schnaps, Whiskey und Rum die ganze Nacht durch verkauft. Die vielen kleinen Teestände bei den Parties mit Süßigkeiten, Kuchen, Zigaretten usw. betreiben die Einheimischen.

Wie viele Touristen kommen denn zu den Parties?

Das ist unterschiedlich. Bei der großen Weihnachtsparty sollen es 17.000 gewesen sein – da treffen sich ja die Rucksackreisenden aus ganz Südasien zur großen Goa- Party. Zur Sylvesterparty am Meer kamen zwischen 10.000 und 15.000, und etwa 5.000 kommen zu einer normalen Party.

Gehen die einheimischen Mädchen und Jungen zu den Parties?

Ja, die Parties werden immer öfter von unseren Jugendlichen besucht. Sie wollen genauso leben wie die Freaks – aber sie können es nicht mit unserem geringen Einkommen hier in Goa. Die Parties sind schon wegen des Alkohols attraktiv – das zieht unsere Jugendlichen an. Manche verdienen inzwischen ihr Geld mit kleineren Drogengeschäften, und immer mehr spielen um Geld – Glücksspiele, bei denen es zum Teil um horrende Einsätze geht. Kein Wunder, daß die Kriminalität steigt. Während der Parties gibt es immer wieder Einbrüche. Man hört es ja kaum, wenn bei der lauten Musik ein Fenster eingeschlagen wird. Es geht sogar so weit, daß unsere Kokosnüsse, von denen unsere Bauern leben, nachts von den Bäumen gestohlen werden. Tagsüber werden sie an Touristen verkauft.

Haben Sie schon etwas gegen die Parties und den Flohmarkt unternommen?

Ja. Schon 1976 haben wir ein Memorandum an die Regierung weitergeleitet. Daraufhin wurden sowohl der Flohmarkt als auch die Parties verboten. Nach einem Regierungswechsel fing alles wieder von vorne an. Die Parties wurden wieder erlaubt, dann nach erneuten Protesten wieder verboten. Das letzte Verbot gab es im Januar 1992. Angefangen haben sie dann wieder im Dezember 1992 zur Weihnachtszeit. Von Weihnachten bis Anfang Februar haben wir allein vierzehn Parties in unmittelbarer Nähe unseres Hauses gehabt. Das hält kein Mensch auf Dauer aus! Interview: Jürgen Hammelehle/

Christine Plüss