Vollkorn am Palmenstrand

Das Peace-Zeichen am Revers, die langen Haare angegraut – im indischen Goa treffen sich alte und neue Aussteiger und kultivieren ihre westliche Aussteiger-Ideologie. Das besuchte Land ist nettes Beiwerk  ■ Von Jürgen Hammelehle

Es riecht nach frischen Brötchen, Kuchen und Zimtschnecken – wie in jeder guten Bäckerei. Nur ist der Platz, an dem all diese Köstlichkeiten angeboten werden, gut und gerne 10.000 Kilometer von Mitteleuropa entfernt. Aber hier sind die „Freaks“ aus Europa und suchen ihre Heimat, die sie für einige Monate oder gar Jahre verlassen haben – zumindest die kulinarische Heimat, denn ganz möchten sie nicht auf die süßen Backwaren verzichten, und so finden Vollkornkuchen und anderes Gebäck reißenden Absatz.

Es ist Mittwoch, 11 Uhr morgens – die „Szene“ von Goa trifft sich auf dem Flohmarkt am Strand von Anjuna. Paradiesvögel gibt es hier, die schon seit Jahren oder Jahrzehnten dem Winter ein Schnippchen schlagen und ihre Weihnachtsferien dem Flugplan der Condor anpassen: „Ich komme jedes Jahr mit dem ersten Condor- Flug im Oktober und fliege mit dem letzten der Saison im Frühjahr zurück“, sagt Anne, eine Aussteigerin aus Berlin, die jede Woche auf dem Flohmarkt allen erdenklichen Krimskrams von der billigen Quarzuhr bis zur Handtasche verkauft. „In Goa liegt das Geld auf der Straße – warum soll ich da zu Hause arbeiten gehen. Die Leute lassen so viel zurück, wenn sie heimgehen – und das verkaufe ich dann und lebe davon“, gibt sie stolz zu und bietet gleich noch eine Sonnenbrille an, die sie heute im Angebot hat. In Anjuna wird gehandelt, es werden Neuigkeiten ausgetauscht, die nächsten Treffs ausgemacht, und vor allem zeigt man sich und wird gesehen.

Für viele der Ausgestiegenen ist der wöchentliche Treffpunkt ein Muß: Leicht sind sie zu erkennen: in die Jahre gekommene Hippies, die längst keinen Paß mehr haben und an denen die Mode der letzten Jahre vorbeigegangen ist. Wie eh und je tragen sie die inzwischen angegrauten Haare lang, haben ein Peace-Zeichen auf der Brust baumeln und pfundweise Ketten umgehängt – unversehens sind sie damit wieder auf der modischen Höhe der Zeit angelangt. Aber die meisten jungen Leute aus Europa, Amerika und Australien, die sich im modebetonten „Hippie-Outfit“ von den Massen durch den Flohmarkt unter Palmen treiben lassen, sind keine Aussteiger. Sie haben daheim das Abitur gemacht oder gerade ihr Studium beendet und erfüllen sich den Traum eines begrenzten Aussteigertums. Sie reisen durch die Welt, und Goa ist nun mal der Erholungsplatz nach all den Strapazen in Indien.

Eine richtige Infrastruktur ist für die Alternativurlauber entstanden: Zuerst kamen ein paar Fahrradverleiher. Heute kann sich der an Mobilität gewohnte Europäer fast überall in Goa ein Motorrad ausleihen, und davon wird rege Gebrauch gemacht, wie die wild geparkten motorisierten Zweiräder am Rande des Flohmarkts zeigen. Gewohnt wird in den vielen Pensionen, die für die Alternativtouristen gebaut worden sind, in Privatzimmern oder, wenn das Geld knapper wird, auch schon mal am Strand. In Goa wird mal wieder richtig gut gegessen, nachts ist man auf Partys, und mittwochs steht der Flohmarkt auf dem Programm: Irre Klamotten kaufen ist angesagt, billiger Schmuck für die Daheimgebliebenen oder ayuwedische Medizin für alle möglichen Wehwehchen.

Unter dem bunten Flohmarktvölkchen sind auch die jährlichen Wiederholungstäter. Längst in die Jahre gekommen, daheim wohlsituiert, kommen sie mit Kind und Kegel für die „schönsten Wochen des Jahres“ an den Platz zurück, wo früher alles so frei war: Sonne, Shit und Palmen. Da wickelt die Mutti der „Nach-68er-Generation“ am Rande des Flohmarkts ihr Kind, und die aus Europa mitgebrachte „Pampers“ fliegt achtlos zum anderen Müll, der sich am Strand von Anjuna jeden Mittwoch häuft.

Ein multikultureller Haufen trifft sich da in Anjuna. Männer aus Kaschmir, dem äußersten Norden Indiens, bieten Schmuck, kunstvolle Holzdöschen und bunte Teppiche an. Wenn man genau hinsieht, fällt einem so manche Kuriosität auf, wie etwa der Holz- Weihnachtsmann, der den Touristen von den mohammedanischen Händlern angeboten wird – egal ob Weihnachtszeit oder Karneval ist. Der Flohmarkt ist längst nicht mehr nur den Hippies und Rucksackreisenden vorbehalten. Die Pauschaltouristen aus den großen Luxushotels in Goa lassen sich das Schauspiel nicht entgehen. Beim Flohmarkt und „Freaks-Gucken“ kommt man leicht ins Gespräch miteinander: „Hier in Goa geht es ja noch mit den Indern, aber im Norden, in Rajasthan, da waren die wie die Schmeißfliegen“, klärt der Ausländer aus Deutschland über die gastgebende Bevölkerung auf. Aber untereinander hilft man sich gerne: „Ersatzbatterien für die Kamera – kein Problem, habe ich immer welche dabei – kannste gerne haben.“

Angefangen hatte das alles mit dem Hippie-Tourismus in den sechziger und siebziger Jahren. Die ersten kamen nach 12.000 Kilometer Fahrt hier an. Sie suchten die heile Welt Südostasiens und damals noch keine Vollkornbäckerei. Ganz im Gegenteil – sie wollten der westlichen Konsumgesellschaft für eine Weile den Rücken kehren. Dann kamen sie heim, erzählten ihren Mitbewohnern in der Wohngemeinschaft und den Mitstudenten von Goa, und so war dieses Paradies bald „in“, ein Überwinterungsort für zivilisationskranke Europäer, Australier und Amerikaner. Sie brachten nicht nur ihre Probleme von zu Hause mit – auch ihre Kultur machte sich am fernen Strand langsam breit. Der Rauschgiftmißbrauch nahm wie das Nacktbaden an den Stränden immer mehr zu. Schon im Januar 1970 demonstrierten einheimische Frauen gegen die unsittlichen Nackten an ihren Stränden.

Heute haben sich die goanischen Frauen angepaßt: Sie verkaufen Schokoladenkuchen, nachgemachten Schweizer Käse, und dazu gibt es importieren Nescafé am Rande des Flohmarktgeschehens. Andere bieten eisgekühltes Bier an und neuerdings garantiert sauberes Wasser in verschweißten Plastikflaschen – über die Verpackungsentsorgung macht sich am Strand von Anjuna kaum jemand Gedanken. Aber manchen ist Goa schon seit Jahren zu voll geworden; sie sind mit dem Rucksack weitergezogen nach Bali in Indonesien oder auf die Insel Koh Samui in Thailand, oder sie haben ein ganz neues Paradies für sich und tausend andere entdeckt. Aber in Anjuna gibt es noch ein paar Hippies, die sich von allem nicht beeindrucken lassen. Ganz am Rand sitzen sie und trotzen den europäischen Genüssen: Sie haben sich echt indischen dhal (Linsenbrei) gekocht und löffeln ihn mit ihren chappattis (Fladen).