Briefe zur deutschen Gefahr

Ende November 1992, einen Tag nachdem in Mölln eine Frau und zwei Mädchen Opfer eines rechtsradikal motivierten Anschlages wurden, schrieb Ralph Giordano einen offenen Brief an Helmut Kohl, der für erhebliche Furore sorgte. Er und andere Juden in Deutschland, so teilte er dem Kanzler mit, glaubten nicht mehr daran, daß dieser Staat willens sei, sie und andere Immigranten wirksam zu schützen, weshalb sie dazu übergegangen seien, selbst für ihren Schutz zu sorgen – zur Not auch mit Waffengewalt.

Die Reaktion auf diesen Brief war enorm. Während die einen nun endgültig den Bürgerkrieg kommen sahen, wurde Giordano von anderen ausdrücklich unterstützt. Endlich unternehme einer was, ziehe die richtigen Konsequenzen aus der eigenen Geschichte.

Giordano hat nun ein Buch vorgelegt, in dem diese Debatte abgebildet wird. Aus den Hunderten von Briefen, die ihn als Reaktion auf seinen Kanzlerbrief erreichten, hat er eine Dokumentation erstellt, die das Spektrum der Diskussion deutlich macht.

Die Briefe sind nach Pro und Contra sortiert, und Giordano hat sich bei der Lektüre vor allem gefragt, wie der Graben, der diese Gesellschaft mittlerweile trennt, je wieder überwunden werden soll, wo noch Möglichkeiten des Dialogs zwischen den beiden Lagern bestehen.

Aber Giordano hat es nicht bei einer reinen Dokumentation belassen. Das Buch heißt „Wird Deutschland wieder gefährlich?“, und diese Frage bemüht er sich auch zu beantworten. Er tut dies in der ihm eigenen Weise – emotional, manchmal etwas pathetisch und selbstverliebt, aber mit großer Ernsthaftigkeit. Hier betreibt niemand ein rhetorisches Spielchen, sondern Giordano quält sich mit der Frage ab, bemüht sich, Klischees aus dem Weg zu gehen und die Probleme realistisch zu benennen.

Er tut dies – natürlich, muß man wohl sagen – vor dem Hintergrund seiner eigenen Biographie. Der Umgang mit der Hinterlassenschaft des Nationalsozialismus war schon immer sein Thema und ist auch jetzt ein Punkt, an dem sich die Antwort auf die Eingangsfrage des Buches mißt. Dabei gibt der Autor zu, daß erstmals seit dem Sieg der Alliierten über den deutschen Faschismus er wieder die Sorge hat, daß Neonazis tatsächlich erneut eine demokratiegefährdende Position erlangen könnten. Dieser Verlust einer lang gehegten Gewißheit ist der Ausgangspunkt des Buches. Am Ende setzt sich aber doch sein Optimismus durch. Die Mehrheit der Deutschen, so glaubt er, hat nach wie vor genügend gesunden Menschenverstand, um nicht noch einmal, dann zum dritten Mal, einen tödlichen Sonderweg zu beschreiten.

Dazu kommt noch eine Haltung innerhalb der jüdischen Gemeinde, der wohl auch Giordano zuneigt. In einem Brief an ihn schreibt eine Jüdin aus Hamburg: „Wie viele von uns war auch ich im Sommer in der Stimmung, die Koffer packen zu wollen, um nicht die Fehler unserer Großeltern und Eltern zu wiederholen. Diese Stimmung ist nach und nach der Erkenntnis gewichen, daß ich mich weder lösen kann noch will von diesem Land, seiner Kultur, den Freunden, dem Beruf, der eng mit der deutschen Sprache verbunden ist. Wir bleiben, wir gehen an die Öffentlichkeit, wir wehren uns.“JG

„Wird Deutschland wieder gefährlich?“ Kiepenheuer & Witsch, 29,80 DM