Befund: Schwacher Knochenbau

Raschkes Werk über die Grünen informiert allseitig bei hohem Unterhaltungswert  ■ Von Claus Offe

Einen so umfassenden und aktuellen politikwissenschaftlichen General-Check-up gibt es von keiner anderen deutschen Partei. Mit freundlich-skeptischem Verständnis nehmen Raschke und die von ihm herangezogenen Sachkenner das gesamte Instrumentarium sozialwissenschaftlicher und zeitgeschichtlicher Diagnostik zur Hand und bescheinigen dem Objekt ihres Bemühens, der Partei Die Grünen, eine Gesamtkondition, die weder zu schweren Besorgnissen noch zu hochfliegenden Hoffnungen Anlaß gibt. Auch ein paar Ratschläge für eine heilsame Lebensweise werden dem Patienten mit auf den Weg gegeben.

Das Problem der Grünen ist der schwache Knochenbau – ihr Mangel an „Strukturbildung“. Auf dem Bildschirm der Diagnostiker gewinnt man den Eindruck eines zum aufrechten Gang nicht recht befähigten Weich- oder Kriechtieres, vielleicht auch eines von Anarchie befallenen Ameisenhaufens. Dieser Befund ergibt sich übereinstimmend als Antwort auf alle vier Fragen, die hier zu stellen sind und dieses massive Stück politikwissenschaftlicher Prosa übersichtlich gliedern: Was? Wer? Wie? Wo?

Was ist die weltanschauliche Substanz der Grünen? Der notorisch „bunte“ Eindruck, den die Farbenmischung der ideellen Parteifahne (Rot-Grün-Lila-Schwarz) macht, legt wenig fest. Was eine anständige Ideologie früher einmal an Struktur geliefert hat, fehlt den Grünen: das Bild vom Zielzustand einer „guten“ Gesellschaft (vor dem „Sozialismus“) und der scharfe Kontrast zur bestehenden schlechten; ebenso eine Vorstellung von der organischen Arbeitsteilung, zwischen dem, was „die Verhältnisse“ aus eigener („krisenhafter“) Bewegung bewirken, und dem, was „wir selbst“ tun müssen. Diese beiden komfortablen Unterscheidungen sind abhanden gekommen. Das Ergebnis ist ein frei flottierender Katastrophismus einerseits, Moralismus und Voluntarismus andererseits, und insgesamt ein Aktionismus, der nicht auf geschichtsphilosophisch hergeleitete Programme reagiert, sondern auf Anlässe, wie sie die Zeitgeschichte in verstörender Vielfalt bietet. Statt des einen Schlüsselproblems eine Vielfalt von „echten Anliegen“. Mit leicht unbarmherzigem Zugriff klaubt Helmut Wiesenthal einen Strauß von Themen, Thesen und Temperamenten zusammen, an dem man staunend sehen kann, was da alles in der kurzen grünen Parteigeschichte schon behauptet und gefordert worden ist. Treffend Raschke: Die Grünen als „Postmoderne wider Willen“, bestenfalls als Passepartout für Themen eines bestimmten Formats.

Wer macht und trägt die grüne Politik? Dieser Teil des Buches liefert eine ebenso ausführliche wie intime Geschichte des grünen Strömungswesens und der Bemühungen um seine Zähmung. Symptomatisch ist, daß der Organisationsgrad der Grünen, definiert als der Quotient von Mitgliedern und Wählern der Partei, extrem niedrig liegt, nämlich unter 2 Prozent. (Wenn man Leuten glauben darf, die es wissen müßten, lag er dagegen bei der DKP extrem hoch, nämlich über 100 Prozent, weil das eine oder andere Mitglied sich bisweilen erlaubte, dann doch lieber SPD zu wählen ... da ist ein niedriger Organisationsgrad schon besser.) Höchst interessant auch die Kapitel über grüne Landesverbände und ihr weit variierendes Spektrum von jeweiligen Mitgliedern, Funktionären, Mandatsträgern und Führungsfiguren. Die Personaldecke für Ämter und Mandate ist bei den Grünen schon deswegen dünn, weil sie zunächst keine nennenswerte „Amtspatronage“ bieten konnten; so schrumpft das Aktivistenpotential ganz zwangsläufig auf den Kreis derer zusammen, die „abkömmlich“ sind, d.h. viele freie Abende und Wochenenden haben, und denen es weniger ausmacht, sie im Dienste der Parteiarbeit zu opfern. So erklärt sich das Paradox, daß gerade die „allgemeinsten“, die Menschheit und ihre Zukunft insgesamt betreffenden Themen von einem sehr speziellen und durchaus unrepräsentativen Sortiment von Personen gehandhabt werden – bei den Grünen ebenso wie (aus anderen Gründen) bei den Volks- oder „Altparteien“. Neu und wichtig ist das Ergebnis, daß bei den Grünen eher die Aktivisten der Apo-Generation als die Träger neuer sozialer Bewegungen den Ton angeben. Liebevoll widmet sich der Verfasser auch der grünen K-Gruppen-Genealogie.

Wie macht man das? Das ist, traditionell gesprochen, die Organisations- und Parlamentarismusfrage. Hier ist der Befund, daß von den entsprechenden Debatten der 60er und 70er Jahre nicht viel Brauchbares übriggeblieben ist und auch Konzepte wie Basisdemokratie, Rotationsprinzip und Bewegungspartei rasch ihre Lieblichkeit eingebüßt haben. Der Abschnitt über „organisatorische Strukturierung“ bietet zwar eine vorzügliche Datensammlung, infiziert sich aber im übrigen deutlich an seinem Gegenstand: er bleibt, nachdem Fraktionen und Vorstände, Parteitage und grüne Stiftungen, Kampagnen und Delegierte usw. durchgemustert sind, im Ergebnis selbst ziemlich strukturlos. Das meiste, was hier steht, wußte man vorher schon; jetzt aber weiß man es viel genauer. Dazu helfen hübsche Milieustudien, wie die von einem „im Hochschulbereich rekrutierenden Bewegungsunternehmer“.

Bleibt der Abschnitt über das politisch-institutionelle und zeitgeschichtliche Umfeld, in dem das alles stattfindet. Was die Grünen strukturiert und auf eine „Linie“ bringt, das sind, wenn überhaupt, nicht selbstgesetzte Programme, sondern der vom Strom der Ereignisse angeschwemmte „Themennachschub“ – nicht weniger als der vom Staat und seiner Wahlkampffinanzierung überwiesene Finanznachschub und die von den Medien gewährte Aufmerksamkeit samt ihrer Rückwirkung auf innerparteiliche Karrieren. Was ihnen dagegen fehlt, und was aufzubauen die Autoren der Partei überzeugend empfehlen, ist ein „verbandspolitisches Hinterland“ organisierter gesellschaftlicher Kräfte. Würde man sich bei den Grünen nicht nur auf Individuen und Ideen, sondern auch auf verfaßte und organisierte gesellschaftliche Gruppen beziehen, dann bekäme man auch ein Bild von der Komplexität der Probleme und der denkbaren Lösungen, das ohne solche Rückkoppelung verschwommen bleibt.

Das imposante Werk trägt definitiv zur Wahrheitsfindung bei und ist deshalb von großem politischen Gebrauchswert. Es belehrt jede(n), der/die es wissen will, über die Fehler, Naivitäten und mehr oder weniger frommen Lügen, die man sich nicht mehr leisten sollte. Es ist auch von großem Unterhaltungswert. Einige zehntausend Bürger der Republik, und seien sie auch nur tangential mit grünem Parteileben in Berührung gekommen, finden hier aufschlußreiche Details zu ihrer eigenen politischen Biographie. Die wären freilich leichter auffindbar, wenn nicht der Verlag – wie in deutschen Bücherfabriken leider immer noch üblich – die Kosten für ein ordentliches Namens- und Ortsregister eingespart hätte, ohne das ein Buch wie dieses die Hälfte wert ist.

Joachim Raschke: „Die Grünen. Wie sie wurden, was sie sind“. Mit Beiträgen von Gudrun Heinrich u.a. Köln 1993, 959 Seiten, 65 DM

C. Offe lehrt Soziologie an der Uni Bremen.