Müde Tiger machen den besten Zirkus

Sesamstraße – nein! Sandmännchen – i wo! Wer wirklich etwas sehen will, macht es wie unser Autor im Thüringischen und besucht einen Kleinzirkus: Da kann er was erleben!  ■ Von Henning Pawel

Was macht ein Mensch bei 30 Grad im Schatten? In den Zirkus gehen. In welchen? In irgendeinen, der gerade durch Thüringen ziehenden elf Groß- oder Kleinzirkusse. Überall kann man ihnen begegnen. Auf Dorfangern und den Plätzen der Städte. Zirkus ist Zirkus. Auch wenn er nur einen einzigen Mast besitzt oder deren sechs. Der Geruch ist überall der gleiche. Ob nun 15 Pferde, sieben Tiger, neun Elefanten und 13 Dromedare im Stallzelt stehen oder nur zwei Ziegenböcke.

Der Duft ist sofort da und steigt bitter-sehnsuchtsvoll in jedes Nasenloch. Es riecht nach allen Rätseln dieser Welt und ebenso nach großem Abenteuer. Ein wenig auch nach Schminke, nach Liebe riecht es immer, all die herrlichen Frauen, die starken Männer, und zum guten Schluß dann duftet es nach Stall.

Ich geh' am liebsten in einen der ganz kleinen Zirkusse. Die großen, in all ihrer Pracht, sind zwar ehrenwert und immer sehr bemüht, doch oft so fern von jeder Originalität und hinken dem großen, jüngeren Bruder – Fernsehen – hoffnungslos hinterher.

Mich zieht's mit Macht jetzt unter das kleine Chapiteau. Ich kenn' es gut. Bin selber in der Kindheit ein Stück des Weges mitgenommen worden und noch heute dankbar dafür. Dort ist man jener alten Zeit noch viel näher. Man spricht noch die Komödiantensprache, die nur ein gelernter Fahrender oder ein Rom oder Sinto versteht. Tschi heißt „nichts“ und Raglo ist der Angestellte.

Die Schugertschai ist eine süße Frau und Tschuglo der Hund. Und der Chef, Camillo Behrends, sieht noch so aus, wie ein Zirkusdirektor auszusehen hat. Mit Schnauzbart, wie der große alte Renz. Dessen Nachfahren und ihr guter Zirkus sind zur Zeit auch hier unterwegs und geben sich ganz große Mühe.

Und elegant hat jeder rechte Zirkuschef zu sein, mit einer Figur, so rank und schlank wie jene Peitsche, mit der Camillo immer knallt. Und er kann auch einfach alles, dieser junge, alte Mann, und macht auch alles. Seine Frau, die Chefin, Roberta, ebenfalls. Eben noch prachtvoll anzuschauen als Kassandra mit den Lipizzanern, die freilich keine sind. Was aber niemanden stört, denn Camillos Gäule sind auch ohne Lipizza noch eine rechte Augenweide.

Und da ist der Chef schon wieder. Mit Turban und im indischen „Outfit“? Er treibt den fürchterlichen Hassan vor sich her? Wer Hassan ist? Ein 53jähriger Bengaltiger. Und er ist so alt und nur noch müde. Gähnend, und wirklich nur dem Chef zuliebe, hopst der wilde Hassan endlich ins Rondell und legt sich dort sofort zur Ruhe. Und was macht der kluge Chef, der nie vergißt, was er seinem Publikum schuldig ist? Weil Bengaltiger Hassan müde ist, hat der Chef nun selbst die Güte.

Hassan schlägt mit dem Schweif einen Ring, und der Chef springt kopfüber und mit Todesverachtung hindurch. Und der Applaus ist wahrlich nicht geringer, als wenn der alte Tiger selbst durch einen brennenden Reifen gesprungen wäre. Und da kommt auch schon die Chefin wieder. Als Aida, das Medium. Nach Hassans Rückzug in den Wohnwagen – er gehört schließlich zur Familie und wohnt schon längst allda – wird die Chefin nun von Camillo in dreißig Teile zersägt. Eigentlich heißt er im Augenblick aber gar nicht so, sondern Caliostro, der Zauberer, der alles wegzaubert, auch die Beine, Arme und Köpfe seiner lieben Ehefrau.

Weiter geht der Kinderseelenschmaus. Samson Musikantow heißt der große Magier, der nur mit seiner goldenen Kehle die ersten zwanzig Reihen blitzschnell leeren kann. Er singt ein Lied mit hoher Fistelstimme, und unter seinem purpurfarbenen Kaftan hervor rasen nunmehr 170 Mäuse, genau auf jene zwanzig Reihen zu. Die leeren sich in großer Eile, das ganze Publikum ist auf der Flucht. Nur einer bleibt gelassen sitzen. Ein Kammerjäger ist es, dem solche Schrecken gar nicht fremd sind. Mit Heldenblick und unbeweglicher Miene erwartet er die Invasion. Doch Samson Musikantow singt jetzt das Heimkehrlied – „Nach der Heimat möcht ich wieder“ –, und schon kehren alle klugen Nager um und verschwinden wieder unter seinem breit wehenden Purpurmantel.

Dann taucht auch schon Soraja auf. Prompt beginnt ein großes Rätselraten unter den Ferienkindern. Wer wohl Soraja ist?

Das zauberhafte, schwarze Schwein, das unglaublich behende auf den Vorderbeinen langspaziert und dabei dem Publikum liebenswürdige Kußhände zuwirft, oder jene dicke Frau, die immerzu mit ihrem Fächer wedelt und jenen Grunzgesellen zärtlich motiviert: „Küßchen, meine Schöne, Küßchen!“ Und zum guten Schluß das größte Rätsel dieser Welt. Wer es errät, bekommt sein Eintrittsgeld zurück.

Die Augen werden jetzt verbunden, dann tiefer Griff in einen Topf. „Pfui Teufel, das ist doch Teer.“

Gewaltiger Applaus. „Richtig geraten. Eintrittsgeld zurück, oder sollen wir es gleich behalten? Händewaschen kostet auch zehn Mark.“ Nach der Vorstellung fahre ich dann mit Don Alfredo, dem Messer-

und Äxtewerfer, noch los, um einen gemeinsamen Jugendfreund zu besuchen. An der Autobahn dann wird Alfredos Geheimnis offenbar. Dichter Nebel, und ich bitte ihn, das nächste Ortsschild vor-

zulesen. Es kommt heran, Alfredo schaut einmal, schaut zweimal und sagt nach einigem Zögern: „Es könnte am Ende Apolda sein.“ Es war weder am Ende noch am Anfang Apolda. Eisenach war es. Alfredo hat lieber Messer werfen als schreiben und lesen gelernt. Die Liebe in den Augen seiner schönen Frau aber, nach der er seine Messer wirft, kann er allemal lesen.

Noch einen großen Zirkusnamen will ich nennen: „Renz“. So wie der hochgerühmte Film. Es wurde 1987 neu gegründet, das alte Unternehmen, vom Urgroßneffen des Altmeisters, Alois Renz, und dessen Ehefrau. Der Zirkus hat sich respektabel herausgemacht in den wenigen Jahren. Der Zirkus und sein Chef, Alois, nebst Chefin Julia und den Kindern David, Carmen und René.

Nicht einen Augenblick Bedauern, der Versuchung „Zirkus Renz“ erlegen zu sein. Schon all der Kinder, auch der meinigen, wegen nicht. Die haben es, trotz wahrer Bäche Schweiß, nun wirklich genossen.

Was ist die Sesamstraße, das Sandmännchen gegen diesen umherstolpernden, großartigen Clown Chico, der mit einem einzigen, sanften Hallo-Ruf ein unglaubliches Echo erfährt!

Sogar eine Weltmeisterin im Frisieren, die riesige Elefantenkuh Maja, die den übertölpelten Gast – aus Ollendorf im Erfurter Landkreis ist er angereist – so herrlich und dabei so sanft mit Bergen Schaum beschmiert. Der Frisierte beklagt sich nach der Seifenorgie bitterlich bei mir. Er sei so schnell in die Manege gerannt, weil er glaubte, so wie die Glückspilze bei RTL oder SAT.1 ein Auto oder wenigstens eine Reise nach Hawaii zu gewinnen. Kann man nur erwidern: „Eingeseift.“

„Die Alexanders“, eine grandiose Stirnperche-Nummer. Das ist beste russische Staatszirkustradition. Was treibt die Artisten nur, bei solcher Hitze und einem bestenfalls zu einem Viertel besetzten Zirkus so glänzend zu arbeiten?

Die riesige Bärentruppe, die da unter der Führung des legendären David Crocket und seiner Gefährten, René und Carmen Renz, durch die Manege wackelt und ohne Käfig allerlei Kurzweil treibt, und natürlich jener gewaltige, furchterregende Alligator, der von vier keuchenden Männern hereingeschleppt und auf dem Brustkasten des Fakirs plaziert wird. Der Ärmste hat sich vorher noch pflichtschuldigst auf ein echtes Nagelbett gelegt und sich verletzt. Man sah, wie nach vollzogener Alligatorenkür ein dünnes Rinnsal Blut den malträtierten Rücken hinunterlief.

Ein freundlicher Rat an den Tapferen: Etwas Schummeln muß erlaubt sein. Der Alligator war ja wirklich echt und jene zentnerschweren Pythons. Wozu dann noch die echten spitzen Nägel? Die sollten zukünftig besser aus Hartgummi sein. Es wird sich bei so viel Können und solch guter Show, wenn es überhaupt jemand bemerkt, gewiß kein einziger beschweren.

Und zauberhafte Pferdenummern. Die Renz-Ponys kennen wohl keine Peitsche. Ein Bild wie aus dem Garten Eden. Die kleinen zauberhaften Kerlchen linsen schelmisch durch die Vorderbeine ihrer riesigen Verwandten. Und natürlich ist immer auch ein Schlaumeierchen dabei, das noch einmal und noch einmal und gar nicht mehr mit der Nummer aufhören will.

Ein wenig strapaziös, das Showorchester. Ob Zirkustiere Kassenanspruch auf Hörgeräte haben? Die sind bei solchem Getöse sicher bald vonnöten. Mir jedenfalls haben sämtliche Trommelfelle geklungen. Bei so viel schönen, sensiblen Zirkusbildern so viel fürchterlicher Discosound!

In der Pause gibt es Popcorn und natürlich Tierschau. Doch die ist eher beklagenswert. Die arme Kreatur in ihrem kleinen Käfigwagen und die Hitze. Nur den Schlangen und Alligatoren geht es gut bei diesen Temperaturen und jener Frisöse Maja mit dem langen Rüssel. Die nämlich wird gerade kalt bespritzt.

Zirkus. Wie rechnet sich denn heute noch solch ein Unternehmen? All die Kosten. Autos, Wagen, Futter, Gagen, Platzgeld, Transporte von Ort zu Ort und sicherlich auch Steuern. Und auf der Habenseite nur die Eintrittsgelder. Und natürlich jenes Geld, das Zauberer Caliostro den staunenden Leuten aus der Nase hext.

Aber sie rechnen sicherlich auch anders, all die Zikrusleute, und die Mark unter dem Chapiteau ist wirklich noch das Dreifache wert.

Denn wo man hinschaut, pures Gold. Kostüme, die in den Augen flimmern, Schmuck und Kleinodien am Turban und an den Händen. Und die Augen, in denen das Feuer jener uralten Kunst noch immer strahlend leuchtet.

Wir dürfen es niemals erlöschen lassen. Mit ihm wäre viel verloren. Die Erinnerung an das verlorene Paradies und die Träume unserer Kinder.