: Kein Anlaß zur Schwarzmalerei?
Bonner Rituale: Kohl und seine Minister präsentierten gestern die Zukunft des „Standorts Deutschland“ mit blühendem Optimismus / Anspruchsdenken an Staat soll gestoppt werden ■ Aus Bonn Tissy Bruns
Hat es in der Koalition Streit gegeben über die Rentenfrage? Überhaupt keinen Streit, die Rente ist natürlich sicher. Ob Blüm mit der Pflegeversicherung noch durchkommt? Natürlich kommt die Pflegeversicherung durch. Kommt der Standortbericht nicht zu spät? Mag sein, jetzt ist er da und alle sind eingeladen, die Aufgaben zu lösen. Ein unanfechtbarer Helmut Kohl absolvierte gestern einen seiner seltenen Auftritte vor der Presse. Der Kanzler und seine Minister hatten in den Tagen zuvor dafür gesorgt, daß das Papier zur „Zukunftssicherung des Standorts Deutschland“ samt seiner schmerzhaften Ankündigungen bereits bekannt war. So konzentrierte sich die illustre Runde – neben Helmut Kohl saßen Wirtschaftsminister Günter Rexrodt (FDP) und Finanzminister Theo Waigel (CSU) – vor allem auf eine Botschaft: Seht her, die Koalition blickt entschlossen in die Zukunft und über den Wahltermin hinaus.
Es gäbe „Anlaß zu einer nüchternen Standortbestimmung“, so lautete Kohls Formel für das Großprojekt, zu dem nicht Politik und Staat allein, sondern die ganze Gesellschaft aufgerufen seien. Nicht nur „punktuelle oder temporäre Maßnahmen“, sondern die „Runderneuerung der Wirtschaft“ strebt der liberale Wirtschaftsminister an. Derart Hochfliegendes hatte der Finanzminister zwar nicht anzukündigen. Doch auch Waigel leistete sein Scherflein zur Hauptbotschaft. „Zur Schwarzmalerei besteht kein Anlaß“, eröffnete Theo Waigel sein Statement, das dem wenig erfreulichen Zustand der Staatsfinanzen galt. Denn der Aufruf zum Umdenken, zur „Veränderung in den Köpfen“ und zur Aufgabe „langjähriger Gewohnheiten“ (Kohl) ist anders als die 1982 proklamierte „Wende“ ein Balanceakt. Könnte doch der Verdacht aufkommen, daß der im Standortpapier festgestellte Ernst der Lage auch von der Regierung zu verantworten ist, die seit über zehn Jahren im Amt ist. „Das ist eine Diskussion, die nicht nur für uns Deutsche zwingend ist“, stellte Kohl einleitend klar. Sie werde praktisch in allen Industrienationen geführt. Daß es auch „gute Standortfaktoren“ gäbe, meinte beruhigend Rexrodt, der die Deutschen vor einer „neuen Qualität von Herausforderungen“ und im „Zwang zu schnellem Handeln“ sieht. Die Rezeptur der Koalition brachte der Kanzler in einem Nebensatz auf eine schlichte Formel: es gelte, „die Ansprüche an den Staat, und zwar auf allen Ebenen, zu stoppen“.
Mehrfach übte sich Kohl erfolgreich in der Kunst, den Zustand als gut und ernst zugleich zu schildern. Das heikle Rentenproblem, mit dem Rexrodt sich vor einigen Wochen zu weit vorgewagt hatte, löste sich gefällig auf für die unmittelbare Zukunft. Hier habe Blüms Rentenreform dafür gesorgt, daß die Renten „bis ins nächste Jahrhundert“ gesichert seien. Aber natürlich hätten die Dreißigjährigen Grund zu Besorgnis und natürlich stellt sich diese Koalition der Zukunftsfrage, daß künftig dreißig Arbeitsjahre fünfzig Lebensjahren in Ausbildung und Pension gegenüberstünden.
Auf das wenig begeisterte Echo von Verbänden und Opposition auf die Vorschläge des Standortpapiers reagierte Kohl gänzlich ungerührt. „Bonner Ritual“ meinte der altgediente Regierungschef, den nichts mehr überraschen kann.
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