Heulbojen im Tränenmeer

■ Strindberg wörtlich genommen: „Fräulein Julie" im Brauhauskeller

Ein Schlachtblock ist ein Schlachtblock. Und im Zentrum einer ansonsten spärlich ausgestatteten Bühne winkt er unübersehbar wie ein Zaunpfahl: Ich bin der Ort, wo Hühnchen gerupft werden und wo man Hähnchen die Hälse umdreht.

Die gräfliche Küchenkatakombe, wo zwei Frauen und ein Mann im Wechsel mehr oder weniger Seelenblut fließen ließen, war am Samstag abend der Brauhauskeller des Goethe-Theaters. Es ging um Liebe, Triebe und Moral, die das Leben der Geschlechter bestimmen — im letzten Jahrhundert allerdings. Aber weil Gefühle zugleich Rettungsringe sind, in die sich die ZuschauerInnen des 20. Jahrhunderts dankbar einhängen können, hielt sich Strindbergs „Fräulein Julie“ siebzig Spielminuten gut über Wasser.

Obwohl dem einstigen Trauerspiel heute seine Brisanz abgeht; soll doch die Flamme zwischen Gräfin Julie (Marina Matthias) und Diener Jean (Stefan Lahr) lodern, was gehen uns die Werte der Ständegesellschaft an? Und was

Adelsfräulein leidet unter bürgerlicher Mutter: Nur eine großzügige Auslegung vermutet dahinter mehr Aktualität

das adelige Fräulein betrifft, daß sie Probleme hat, ist offensichtlich. Allenfalls persönliche Probleme, Kindheitsgeschichten, so sehen wir das heute. Nur eine großzügige Auslegung vermutet dahinter mehr Aktualität.

Julie hatte unter ihrer Mutter gelitten, einer Bürgerlichen, die selbst durchdrehte, weil sie die gesellschaftlichen Zwänge haßte. Allen voran die Ehe, die sie dem leiblichen Grafenvater Julies anfänglich verweigerte. Und später zwang sie die Tochter im Emanzipationsstakkato, Männerarbeit zu verrichten und wie ein Mann zu denken. Das ist Julie schlecht bekommen — und nun haßt sie Männer, aber auch sich selbst.

Der Diener Jean bekommt das zu spüren. Leidenschaftlich, denn Haß und Liebe schließen sich nicht aus. Widersprüchlich und verwirrend geht es auf der Bühne zu, aber so scheint das Leben zu sein — wenn es nach Strindberg geht, und die Regisseurin Gila Maria Becker folgt ihm in dieser Auffassung.

Heftig aber nicht hysterisch treten ihre Personen auf, allesamt starke Charaktere, überzeugend gespielt und voller Leidenschaft: Die Gräfin und der Diener glühend zickig füreinander und für die je eigenen Interessen; für die Bewahrung von Sitte und Anstand, wunderbar derb und einfach und als Charakter schon lange ausgestorben, die Küchenmagd Kristin (Angela Buddecke).

Der Weg zum Abgrund ist vorgezeichnet, denn die Liebesflucht in die Schweiz bleibt Hirngespinst. Trotzdem schön zum mitansehen, mehr nicht. Dazu geht die Materie zu wenig unter die Haut, ist die Leidenschaft zu wirr. Und dennoch: Das Gemetzel im Netz der bürgerlichen Moral und das Würgen in den eigenen Fallstricken ist gut inszeniert. Die Aufmerksamkeit gilt beim sparsamen Bühnenbild den Personen und ihren Stimmen — und die leuchten zuverlässig wie Bojen im Gefühlsmeer. Und bringen das Publikum manchmal unvermutet zum Lachen, wenn sie Strindbergs zynischen Humor gekonnt intonieren. Fast wie in einer amerikanischen Fernsehserie — aber das muß man selbst gehört haben.

Eva Rhode