Scheibengericht

J. Cage/D. Tudor

Indeterminacy

(SF 40 804/5)

Ein Vortrag mit dem Titel „New Aspects of Form in Instrumental and Electronic Music“ ist etwas für Spezialisten, oder? Nun, was John Cage da zum besten gibt, ist ein Sack voll (um genau zu sein: 90) Anekdoten, Lebensweisheiten und Sinnsprüche. Wahllos (um genau zu sein: zufällig) gereiht, mit ausdrucksloser, monotoner Stimme verlesen. Einzig das Sprechtempo wird so gewählt, daß jede der unterschiedlich langen Stories genau eine Minute dauert. Das gehört zum Konzept.

„In Zen they say: If something is boring after two minutes, try it for four. If still boring, try it for eight, sixteen, thirty-two, and so on. Eventually one discovers that it's not boring at all but very interesting.“

Ebenso dazu gehört David Tudor, der gleichzeitig, aber unabhängig von Cage, in einem Nebenraum auf seine unnachahmliche Weise ein Klavier traktiert, wunderbare Geräusche erzeugt, Tonbänder und Radios einspielt. So gesellen sich Klänge zu Berichten, scheinen diese zu illustrieren, zu kommentieren, ihnen zu widersprechen, neue Stories zu erzählen. Ist aber alles reiner Zufall. Das Resultat exemplifiziert den Übertitel „Indeterminacy“ = Unbestimmtheit. Und der wiederum erklärt den Titel.

Wolfgang Rihm

Musik für drei Streicher

(CPO 999 050-2)

Lieder (CPO 999 049-2)

Kein Firmament/Sine Nomine

(CPO 999 134-2)

Nach einer dreißig Jahre währenden Zeit des ästhetischen Purismus trat in den frühen Siebzigern plötzlich eine ganze Phalanx junger Komponisten auf, die sich nicht länger an die Doktrinen der Ästhetik-Päpste binden wollte. Nieder mit dem Tonalitätsverbot, weg mit dem Verzicht auf Ausdruck, keine Ächtung von Allgemeinverständlichkeit! Schreiben wir wieder Symphonien, Opern, Konzerte und alles, was Spaß macht und gut ankommt! Adorno war tot – wer außer ihm hätte die Bande zur Räson bringen können? Die Etiketten „Neue Einfachheit“, „Neo-Expressionismus“ oder „Neo-Romantik“ waren weder einfallsreich noch schlagkräftig, zumal die Eloquenz ungleich verteilt blieb. Einer war am eloquentesten – Wolfgang Rihm – und konnte leichthin den Eklektizismusverdacht (vulgo: Abschreiber) leicht abwehren und gilt nach vielen Debatten heute als der repräsentativste Neuerer. (Die Etiketten passen heute besser auf die Alt-Avantgardisten selber, die, da das Alter die Produktion erschwert, arbeitsteilig verfahren: Stockhausen hat sich auf Opern spezialisiert, Ligeti schreibt die Konzerte, während Schnebel und Kagel die anderen altehrwürdigen Gattungen abdecken.)

Was ist dran am Romantik-, Expressionismus-, Einfachheitsverdacht? „Musik für drei Streicher“ (1977) ist mit 62 Minuten Dauer wahrscheinlich das längste kontinentale Streichtrio und schon deswegen nicht eben hörerfreundlich. Auch weil sich so recht keine romantische Idylle breitmacht, stets werden die leiseren Töne von dazwischenfahrenden, schroffen Akzenten abgewürgt. Das Aufgebot an Klangkraft ist von Mahlers ekstatischen Katastrophen ebensoweit entfernt wie von Schönbergs Klaustrophobien. Die notorischen Rhythmen und insistierend gesägten Akkorde in zumeist größtmöglicher Lautstärke legten, wenn es nicht so absurd wäre, einen anderen Bezug nahe: Punk. Zumindest aber „Neuer Wilder“ oder „Angry young men“.

Das Epitheton „Einfachheit“ hat man Rihm vielleicht wegen seiner „Neuen Alexanderlieder“ verliehen (1979, auf Gedichte des schizophrenen Künstlers Ernst Herbeck). Gesang und Klavier sind tatsächlich überwiegend „romantisch“ geführt, etwas Schumann, viel Mussorgski, aber die musikalische Sprache ist ebenso knapp „ver-rückt“ wie die Verse des Verrückten: scheinbar einfache Sätze und Sachverhalte, aber irgend etwas stimmt nicht: Das Versmaß ist verletzt, die Metaphern sind zusammengezwungen, zu groß ist die Fallhöhe der Stilebenen. In der Musik sind die Pausen zu lang und an den falschen Stellen, die Weisen etwas zu schlicht und mit etwas zuwenig Anteilnahme gesetzt. „Der Flieder steht im Garten. / so dicht und hoch hinaus. / die Mutter sieht die Blumen blühn. / und in die Zeit hinein. / da war es aus mit drum und dran. / die Welt sah anders aus.“

Das Ensemblestück „Kein Firmament“ (1988) ist ein Ausnahmestück, so leise und vielfarbig war Rihm bisher noch nicht zu hören. Ohne metrischen Fluß, ganz vereinzelt, tauchen Klänge (exquisit instrumentiert) aus dem Nichts auf, verschwinden wieder oder, selten, explodieren mit jähem Aufschrei.

Arnold Schönberg

Suite op. 29, Bläserquintett op. 26

(Decca 433 083-2)

Als Schönberg seiner zweiten Frau Gertrud einmal ein Geschenk machen wollte, entschied er sich, eine Suite zu schreiben, eine heitere, unbeschwerte Sammlung von Tänzen. Daß es nicht nur lustig, sondern auch mit Anspielungen aus dem Privatleben hergehen sollte, zeigt der ursprüngliche Plan der Satzabfolge. Da wären: 1. 6/8 leicht, elegant, flott, Bluff; 2. Jo-Jo Foxtrott; 3. Fl. Kschw. Walzer (was für ein heimlicher Lacher sich dahinter wohl verbirgt?); 4. AS Adagio (dreimal darf geraten werden!); 5. JdeB Muartsch Var (?); 6. Film Dva; 7. Tenn Ski (sic).

Faktisch daraus geworden sind: Ouvertüre, Tanzschritte, Thema mit Variationen und Gigue. Sie gehören zu den frühesten Zwölftonstücken und dürften wohl selbst versierte Tänzer bös durcheinanderbringen. Die Musik ist, kurz gesagt, ein wenig gewöhnungsbedürftig. Beim zweiten Hören sortiert sich das Tonsatzdurcheinander in drei Gruppen von drei Klarinetten, drei Streichern und Klavier; beim dritten Mal gewahrt man die konzertierenden Wechsel der Stimmen und beginnt beim vierten Mal, den etwas abstrakten Beat und vor allem das schwungvolle (doch!) und souveräne Spiel der Memberg of the London Sinfonietta unter David Atherton zu schätzen. Drei Wochen Hörarbeit, aber der Aufwand lohnt sich.

Luigi Nono

La fabbrica illuminata; Ha venido, Canciones para Silvia; Ricorda cosa ti hanno fatto in Auschwitz

(WER 6038-2)

Nach einer Schwemme von Aufnahmen aus Nonos Nach-Streichquartett-Phase erscheinen zunehmend Werke aus seiner mittleren, „heroischen“ Phase. Durch die Wiederveröffentlichung bei Wergo sind seine Arbeiten mit Tonband „La fabbrica illuminata“ und „Ricorda cosa ti hanno fatto in Auschwitz“ (beide 1967 aufgenommen) weiter erschlossen. In dem Zusammenhang stellt sich die Frage nach historischer Aufführungspraxis in bezug auf Tonbänder. Ist ein einmal vom Komponisten realisiertes Band für immer sakrosankt – auch wenn es restaurierungsbedürftig ist? Auch wenn mittlerweile durch versiertere technische Mittel das obligatorische Rauschen gemildert, die Höhen entzerrt und den Tiefen Kontur verliehen werden könnte? Das Problem ähnelt der Aufgabe von Restauratoren, aus den Beuysschen Fettskulpturen auf ewig haltbare und unwandelbare Kunstwerke zu machen.

Selbstverständlich wird in absehbarer Zeit niemand an Nonos Abmischung herummanipulieren, obgleich die Tapes heute bestenfalls als Rough Mix durchgehen würden. Die Klangästhetik hat sich jedenfalls erheblich verändert. Von Schnittfehlern abgesehen, fallen die, wo es sie gibt, viel zu kurzen Blenden auf. Gelegentlich bricht ein Kanal plötzlich weg. Absicht? Wenn Neutralität des Klangraums erzeugt werden sollte, hätte „Stille“ nicht mit „Nichts“ repräsentiert werden dürfen. Wenn ein Klang plötzlich abreißt, wird keine akustische Verlagerung im Raum erzeugt, sondern der Gedanke an einen technischen Defekt nahegelegt. Davon abgesehen ist die Trockenheit und Schroffheit des Klangbildes eine wirksame Grundierung für die zu transportierenden Inhalte, von der hier nicht die Rede sein wird.

Wer schon länger an einer Betrachtung zu Nonos Denken, Werk und Stil interessiert ist, dem sei der ausführliche Essay von Konrad Boehmer im Booklet anempfohlen. Beide Stücke sind Meilensteine im Repertoire der Musik nach '45. Unbestritten.

György Kurtág

Kafka-Fragmente op. 24

(HDC 31 315)

„Aber jeden Tag soll zumindest eine Zeile gegen mich gerichtet werden, wie man die Fernrohre jetzt gegen den Kometen richtet.“ Mit dieser Absichtserklärung eröffnete Franz Kafka 1910 sein Tagebuch. György Kurtág, der Meister der kürzesten Form, hat aus den dreizehn Jahren Tagebuch vierzig Fragmente separiert und vertont. Eine Sängerin, eine Geige. Zwei Jahre Arbeit, sicherlich jeden Tag einen Klang skizziert, ein Phonem gefunden, einen Tonfall gegen sich und sein Ohr gerichtet. Lang gesucht und viel verworfen. Doch was geblieben ist von den Fragmenten, blitzt auf und zieht einen Schweif, der nachleuchtet, so, wie Kometen es tun.

Adrienne Csengery, die Sängerin, hat diese kurzen und kürzesten Gesänge als „Monodramen“ bezeichnet. Das ist gattungsgeschichtlich falsch, da eine Sprechstimme in Begleitung eines Orchesters eine Story darbieten müßte, aber dennoch völlig richtig, weil der Geiger András Keller ein Orchester ersetzt, weil Csengery durch die zerklüfteten Gesangslinien zu uns spricht, vor allem aber, weil die Fragmente mitunter wahrhaft „lange Geschichten“ sind, wie zum Beispiel Nummer 34: „Ich sehe einem Mädchen in die Augen, und es war eine sehr lange Liebesgeschichte mit Donner und Küssen und Blitz. Ich lebe rasch.“ Kurtág auch, seine Arie zum Libretto: 56 Sekunden. Umgedrehte Fernrohre funktionieren nun mal wie Mikroskope.

Arditti String Quartet

U.S.A. Montaigne

(1 CD 782 010)

Ein weiterer Baustein der Streichquartett-Enzyklopädie des XX.Jahrhunderts, herausgegeben vom Arditti-Quartett, ist erschienen. Es ist der 15te. Nach ausführlichen Monographien über Spanien, Italien (2 x Nono), Deutschland (Rihm, Kagel), Österreich (Webern, Schönberg, Berg) und Frankreich (Senakis, Aperghis) folgt nun ein Eintrag in die Abteilung Amerika. In Europa galt/gilt das Streichquartett als die Mustergattung, an der sich kompositorisches Vermögen zu beweisen hatte. Nicht so in Amerika. Hier wurde die kleine, aber homogene Besetzung als Chance erkannt, Ideen zu erproben, die in anderen Konfigurationen kaum zu realisieren sind. Viele der eingespielten Stücke haben daher den Charakter von Experimenten bzw. Studien.

Am deutlichsten trifft das wohl auf Conlon Nancarrows „String Quartet No. 1“ (1945) zu, der glaubte, seine Vorstellung von Polytempik, d.h. dem gleichzeitigen Ablauf von Stimmen in verschiedenen Geschwindigkeiten, durch vier unabhängige Personen verwirklichen zu können.

Charles Ives „Scherzo“ verdankt seine Entstehung einem interpretatorischen Unvermögen. Der Mittelteil trägt den Untertitel „Practice for String Quartet – in Holding Your Own! – Study dedicated to Gustave Bach“, der seinerzeit, 1914, kein „ges“ gegen ein „f“ halten konnte oder wollte.

Nun hatte er eine chromatische Tonleiter gegen zwei C-Dur-Tonleitern zu spielen. Das trainiert! Des weiteren finden sich kleine Raritäten wie Morton Feldmans „Structures“, Alvin Luciers „Fragments“ und La Monte Youngs „On Remembering a Naiad“. Das experimentelle Problem wird hörend evident. If not, verrät das Booklet die Lösung.

P. Bley/H. Koch/F. Koglmann

12 (+ 6) in a row

(HAT CD 6081)

Nicht alles, was dem Meister aus den Fingern quillt, ist göttlicher Abstammung. Paul Bleys unikater Pianostil ist stets von der Verknüpfung zweier Antagonismen geprägt: Kontrolle und Risiko. Davon zehrt die atemberaubende Spannung seiner Aufnahmen. Wie jeder Musiker ist er gelegentlich unkonzentriert, und das führt natürlich zu Fehlern – ja, auch in frei improvisierter Musik gibt es Fehler, und die sind, wenn einmal eingespielt, für allemal dokumentiert. Die simultane große Sekund in „Solo 1“ bei 1'09'' ist falsch, schlicht danebengegriffen, da die Logik des Stücks auf linearer Fortschreitung basiert und ausschließlich Skalen und keine Akkorde verwendet werden (die zwei Ausnahmen bei 0'51'' und 2'33'' sind begründet, sie markieren den Abschluß von Abschnitten).

Die Duos und Trios mit dem Saxophon- und Klarinettisten Hans Koch und dem Flügelhornisten Franz Koglmann (der in kleinen Dosierungen gut zu ertragen ist) sind sehr pointiert auf Kommunikation ausgelegt, allerdings bleibt Bley stets primus inter pares. Eine gründliche und vor allem kritische Auswahl hätte der Platte ebenso gut getan wie eine Stimmung des Pianos (b' und fis'' sind bestenfalls als untot zu bezeichnen) – sie hätten zu einem „Werk“ führen können. So ist es nur eine von vielen Platten mit Paul Bley, die einige ausnehmend gelungene Takes enthält. Weniger ist manchmal mehr.

Michala Petri/Keith Jarrett

Bach-Sonatas (RCA 61 274)

Handel-Recorder Sonatas

(RCA RD 60 441)

Ähnlich wie Spinat gehört die Blockflöte zu den wichtigsten Initiationsriten unserer Zivilisation. Die erste Begegnung mit den großen geheimnisvollen Welten, hier die der Nahrungssuche bzw. der Musik, scheint nicht ohne nachhaltiges Trauma ablaufen zu können. Im Unterschied zu Spinat, der ab der postjuvenilen Phase wieder genießbar wird (besonders mit Rahm), bleibt die Bockflöte in der Regel lebenslang auf der Liste der unmöglichen Dinge. Wir können nun eine Therapie unter der Patronage der wohl sensibelsten „Dottore de la musica“ annoncieren: Michala Petri spielt Blockflöte, Keith Jarrett accompanieret am Clavicembalo.

Anhand der Sonaten von Johann Sebastian Bach und Georg Friedrich Händel kurieren die beiden von mehreren chronischen Vorurteilen. Da ist zum einen die oft (und oft auch zu Recht) behauptete Wesensverwandtschaft von Flöte und Pfeife. Aber selbst wenn Frau Petri zur Sopranblockflöte greift, bleiben die zu erwartenden schrillen Angriffe auf das Nervenkostüm aus. Sie entlockt dem Pflockholz einen kräftigen, aber stets samtenen Klang. Die Altblockflöte tönt warm, milde, hellgoldbraun, frühherbstlich, verzweiflungströstlich und nach allem, was die Engländer so unübersetzt „merry melancholie“ nennen. Das andere betrifft die Anschauung, mit solch leisem und kraftlosem Instrument könne wohl nur muffige, verzagte oder bestenfalls noch hysterische Musik praktiziert werden. Nun, da ist Keith Jarrett vor. An keiner Stelle tritt die Musik auf der Stelle, selbst bei den langsamsten Tempi nicht. Mittels konziser Rhythmen und Betonung der linearen Kräfte erzeugen beide, sich gegenseitig beflügelnd, einen „Drive“, der jeden Wunsch nach „Power“ vergessen macht.

Muß über die Stücke noch etwas gesagt werden? Sie gehören zum Besten, was das europäische Barock hervorgebracht hat.