: Drei Schläge mit der Latte
Der 17jährige André erschlug eine Serviererin „einfach so“ mit einer Holzlatte / Das Bautzener Landgericht verurteilt den Rechtsradikalen zu viereinhalb Jahren Jugendhaft ■ Aus Bautzen Annette Rogalla
Da sitzt er. In teure Markenware gehüllt, rote Diesel-Jeans und graues Chevingnon-Sweatshirt, an den Füßen Doc-Martens- Halbschuhe mit Stahlkappen. Über der wulstigen Oberlippe zeigt sich der erste Flaum, Pickel sprießen auch im Gesicht, und seine pechschwarzen Haare sind rappelkurz. Fast ein Junge noch, 17 Jahre alt, mit Ring im Ohr. Schweigend in sich zurückgezogen, wach und doch teilnahmslos zugleich. Sagen wir André zu ihm. Sein muskelbepackter Oberkörper erscheint klobig und klotzig, wie bei einem, der vor lauter Kraft nicht laufen kann. Tatsächlich ist André nur knapp 1,70 groß und brustkorbabwärts ziemlich schmächtig. Sich selbst bezeichnet er als „lustigen Typ“. Von Gewalt hält er nicht viel, „nur wenn's nicht anders geht, finde ich es angebracht“.
André lebt in Hoyerswerda. Am Abend des 10. Oktober vorigen Jahres verabredet er sich mit etwa 15 anderen Jugendlichen vor der Discothek „Grubenlampe“ in Geierswalde, einem Ort auf halber Strecke zwischen Hoyerswerda und Senftenberg. Die meisten jungen Leute, die aus den drei Trabis steigen, sind angetrunken. Am Friedhofszaun, gut 20 Meter gegenüber der Gaststätte, sammeln sie sich. Sie brüllen „Sieg Heil!“ und „Deutschland den Deutschen“, „Ausländer raus“. Die Handvoll Disco-Besucher vor dem Eingang buhen zurück.
Das ist wie ein Startzeichen. André reißt sich eine Latte aus dem Friedhofszaun und stürmt mit Daniel H. auf die Gruppe los. Er schlägt dem erstbesten, der sich ihm in den Weg stellt, die Faust ins Auge, André zieht ihm von hinten die Latte über den Kopf. Heiko H., Kfz-Lehrling, stürzt mit einer Platzwunde zu Boden. André hält die Latte fest in beiden Händen. Tänzelnden Schrittes springt er auf und ab: „Laßt mich bloß in Ruhe“, brüllt er, „wer herkommt, ist dran.“ Karl-Heinz Meyer, der Gastwirt, kann den Schlag gerade noch mit dem Unterarm abfangen. Aus der Gruppe der Neugierigen geht Waltraud Scheffler auf das tobende, lattenschwingende Rumpelstilzchen zu. „Beruhig dich“, sagt die Aushilfsserviererin, „schmeiß das Ding weg.“ Knapp einen Meter steht sie ihm gegenüber. „Hau ab, du Schlampe.“ Die 44jährige, rundliche Frau bleibt unerschrocken. „Ich könnt' deine Mutter sein.“ André holt zum Schlag aus, mit großer Wucht trifft die Latte Waltraud Scheffler an der rechten Schläfe. Am 23. Oktober 1992, dreizehn Tage nach dem Angriff, stirbt sie im Klinikum von Hoyerswerda, ohne aus dem Koma wieder aufgewacht zu sein.
„Ich weiß nicht, was mit mir los war. Ich war wie abgeschaltet, als ich auf sie einschlug.“ An mehr kann sich André fast ein Jahr nach der Tat nicht mehr erinnern. Das Urteil des Jugendschöffengerichts Bautzen lautete am vergangenen Freitag: vier Jahre und sechs Monate Jugendstrafe wegen schweren Landfriedensbruchs, Körperverletzung mit Todesfolge und Verwenden von Zeichen verfassungswidriger Organisationen. Auch die Parolen „Deutschland den Deutschen“ und „Ausländer raus“ wertete das Gericht als Verstoß gegen Paragraph 86 und 86a, denn sie „mißachten den Gedanken der Völkerverständigung“, begründete die Vorsitzende Richterin.
Während der dreitägigen Beweisaufnahme beteuert André, er habe sich nicht von Waltraud Scheffler bedroht gefühlt, eher von dem Pulk, der hinter ihr herging. Als Waltraud Scheffler zu Boden fiel, wandte sich André ab, fuhr nach Hause und legte sich ins Bett, bis die Polizei ihn anderntags um 11 Uhr abholte.
André tut sich vor Gericht schwer mit dem Sprechen. Bevor er antwortet, schnappt er hörbar nach Luft und läßt die Schultern sacken. Mit hängendem Kopf gräbt er förmlich nach jedem einzelnen Buchstaben. Lieber jedoch würde er sie alle wieder hinunterschlucken. Der Akt des Sprechens beansprucht den gesamten voluminösen Brustkorb. Selten formen Worte einen ganzen Satz.
„Warum haben Sie das getan?“ fragt die Vorsitzende Richterin Christa Senkbeil, 39.
Schweigen, 5 Sekunden, 10, 15.
„Weshalb sind die Schläge direkt zum Kopf verabreicht worden, nicht zu den Beinen?“ André schluckt. Er braucht Zeit.
Schon eilt ihm die freundliche Vorsitzende zur Seite: „Weshalb haben Sie überhaupt geschlagen?
„Hat sich so ergeben.“ André vibriert und schlägt die krampfenden Hände ineinander.
„Die Bürgerin ging zu Boden?“
„Ja.“
André stammt aus einem Dorf bei Hoyerswerda. Er ist der erste Sohn von Erika F. Schon als Kleinkind lehnt er Zärtlichkeit ab, „er schüttelte sich, wenn er gekusselt wurde“. In der Schule sei er bis zur 7. Klasse sehr gut mitgekommen. Dann fielen die Leistungen in den Keller. Es kommt die Zeit der Wende. Andrés Schulleistungen werden noch schlechter. Trotzdem drängt der Stiefvater darauf, die 10. Klasse abzuschließen. Problemlos findet André einen Ausbildungsplatz in einem Malerbetrieb. Die Traumlehre. Den praktischen Teil meistert er überdurchschnittlich gut, nur mit der Theorie hapert's. Dieses Manko versucht er wie so oft zu überspielen, indem er in der Schule den Klassenkasper mimt. Die Mutter schildert Andrés Entwicklung unproblematisch. „Er ist immer pünktlich aufgestanden und war früh schon sehr selbständig.“ Ein unauffälliger Lebenslauf? Stephan Sutarsky, 48, begleitet die Verhandlung als psychiatrischer Gutachter. Als er die Mutter bittet, über ihre Scheidung zu erzählen, bricht es leise aus ihr heraus: „Sein Vater wollte, daß ich ihn wegmachen lasse.“ Erika F. trennt sich von dem Mann, trägt die Schwangerschaft aus, sitzt mit dem Baby in einer Einzimmerwohnung. Sie trifft sich wieder mit Andrés Vater, heiratet ihn dann doch im Juli, fünf Monate nach der Geburt. Der Mann belästigt die Frau wiederholt. Nach fünf Jahren reicht sie die Scheidung ein. Erika F. erzählt die Geschichte ihrer Ehe. Trocken schluchzend hört André seiner Mutter zu, bevor er tränenüberströmt den Kopf in seine Arme legt.
Der Gutachter bricht die Befragung ab, nicht ohne den Hinweis, daß sich in den ersten drei Lebensjahren emotionale Handlungsstrukturen verfestigen. Der Stiefvater, Angestellter im öffentlichen Dienst, akzeptiert André „von Anfang an wie einen Sohn, ohne eben aus eigen Fleisch und Blut“.
Was der Stiefvater zu Hause sagt, wird getan. Selten nur kommt ein Widerwort. Was ihm Halt und Gemeinschaftsgefühl gibt, die Klasse, der Boxverein, das Jugendfreizeitheim. Der Boxverein geht nach der Wende ein. Übrig bleiben spontane Treffen zum sporadischen Training. Die Clique entsteht. Eine Horde Jungmänner und -mädels trifft sich am Wochenende in der Dorfdisko von Nardt. Die Zusammensetzung ist beliebig, sie verbringen den Abend bei viel Musik und wenig Worten und reichlich Alkohol. Parolen halten sie zusammen und die Lust an Randale. Prügelorgien nennen sie Freundschaftsdienste.
Dreimal während der elfmonatigen U-Haft hat Psychiater Stephan Sutarsky André gesehen. Das Gutachten, das er und ein Psychologe erstellt haben, bescheinigt ihm eine durchschnittliche Intelligenz, in seiner Entwicklung habe „die Normalität dominiert“.
André führt ein Doppelleben der Normalität. Von Montag bis Freitag paßt er sich an, nur keiner Autorität widersprechen, höchstens mal in der Schule einen dummen Spruch wagen und ansonsten Cola trinken. Auf die aufgestauten Aggressionen und den Frust vom Leben gießt er am Freitagabend Bier und Schnaps. Das enthemmt und entbindet von der Verantwortung. Moralische Grenzen fallen wie Dominosteine. Es darf sich alles erbrechen. Mit einer verbalen Aggression beginnt es, Faustschläge setzen nach, steigern sich im Zuschlagen mit der Latte. Dreimal holt André aus, immer gezielt und immer auf den Kopf. Wenn die Polizei ihn nicht aus dem Bett geholt hätte, wäre er aufgestanden, hätte gefrühstückt und sich vielleicht nicht mehr an die Nacht erinnert.
Jener Samstagabend im Oktober beginnt mit dem ritualisierten Ferierabendsaufen. André bechert mit Freunden in der Disco in Nardt. Vier Bier und zwei doppelte „Chantré-Cream“ wird er wohl intus haben. 2,7 Promille ergeben die Berechnungen, die der Gutachter erst während der Verhandlung anstellt. Gegen 11 Uhr tritt der Fenstermonteur Thorsten, 24, in die Kneipe, zeigt seinen zerrissenen Pullover vor. Ein Wessi war's, drüben, in der Discothek in Geierswalde. Die Kumpels verstehen, die Sache ist klar: Rache. Sie steigen in die Autos und fahren nach Geierswalde. Irgend jemand fängt an, die Parolen zu grölen.
Dienen „Sieg Heil!“ und „Ausländer raus“ mittlerweile lediglich der Stimmungsmache für samstägliche Balgerein? „Damit testen die meisten ihre Umgebung aus“, sagt Sutarsky. Reagieren die anderen, sind sie die Gegner, der Feind.
André ist Mitläufer. Angeführt wurde die Gruppe von Daniel H., den die anderen vor Gericht „Bockwurst“ nennen. Er macht sich zum Sprecher der elf Belastungszeugen. Die kupferrote Kurzhaarkrause läßt sich als geballte Ladung Kraft auf dem Zeugenstuhl nieder. Während er kleine Steinchen aus dem Profil seiner Springerstiefel pult, gibt Bockwurst dem Gericht zu verstehen, daß weder er noch die anderen sich „genau an den Abend“ erinnern werden. „Ich weiß nix mehr. Und den Rest können Sie im Vernehmungsprotokoll nachlesen.“ Die Richterin bleibt gelassen. Jede freche Antwort quittiert sie mit einem Lächeln.
So verbirgt sie ihre Unsicherheit. Erst vor einer Woche wechselte sie vom Amts- zum Landgericht. Dieser Prozeß ist ihr bislang größter Fall. Michael Goebel, 35, Assessor aus Ludwigshafen, vertritt die Anklage. Es ist sein erster Fall als Staatsanwalt. Beide bestreiten die Verhandlung behutsam, mitunter sogar zu sanft. Niemand muß sich unangenehme Fragen gefallen lassen. So dürfen diejenigen, die mit André zur „Vergeltungsaktion“ gestartet waren, allesamt kurzgeschoren und in einschlägiger Bekleidung, eine offensichtlich abgesprochene Version liefern. Keinem von ihnen kommt ein Wort des Bedauerns für Waltraud Scheffler über die Lippen. Gegen die Belastungszeugen ermittelt der Staatsanwalt wegen schweren Landfriedensbruchs.
In seinem Plädoyer stellt Staatsanwalt Goebel den Gedanken der Besserung in den Vordergrund. André „muß lernen, ohne Einsatz von Gewalt Konflikte zu lösen. Dies bedarf der längeren erzieherischen Einwirkung.“ Michael Goebel fordert sieben Jahre Jugendstrafe. Pflichtverteidiger Andreas Suchy ist sich darüber im klaren, daß der Knast alles andere als eine pädagogische Anstalt ist. Nicht die Generalprävention, nicht die Abschreckung, dürfe im Vordergrund stehen. Suchy fordert eine Strafe „unter drei Jahren“.
Aber selbst in diesen drei Jahren, was wäre da? (Es werden schließlich viereinhalb, das Schöffengericht entscheidet sich für die Mitte.) Mit keinem Wort, keiner Geste hat André während der vier Prozeßtage den Eindruck vermittelt, er werde sich aus seiner bisherigen Doppel-Normalität lösen. Wie könnte er das auch? Ohne Psychotherapie lassen sich solche verhärteten, in der Kindheit erworbenen psychischen Strukturen kaum verändern. Aber auf die Idee einer Behandlung ist im Gerichtssaal niemand gekommen.
Niemand hat gemerkt, daß André sich in der Untersuchungshaft Hakenkreuze auf Brust und Oberarme hat tätowieren lassen. Um seinen Freunden zu zeigen, daß er weiter zu ihnen gehören will.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen