■ Zur israelisch-palästinensischen Grundsatzerklärung
: Autonomie im Laboratorium

Unter Autonomie, zu deutsch Selbstgesetzlichkeit, versteht man gemeinhin die Herstellung von (Rechts-)Verhältnissen, die einer Teilbevölkerung eines Staates in kultureller, wirtschaftlicher und vor allem auch politischer Hinsicht eine Sonderstellung einräumen. Dabei handelt es sich in der Regel um eine Minderheit, die die gleiche Staatsbürgerschaft besitzt wie der Rest der Bevölkerung und, damit verbunden, auch die gleichen Rechte und Pflichten, beispielsweise das Wahlrecht. Eine Autonomieregelung impliziert meist auch dem Umbau der vorhandenen staatlichen Ordnung unter neuen, föderativen Vorzeichen.

Wenn also heute von einer Autonomie für den Gaza-Streifen und die Region Jericho in der Westbank die Rede ist, handelt es sich um einen ausgesprochenen Sonderfall, denn die Palästinenser leben in einem seit 1967 besetzten beziehungsweise, im Falle von Ostjerusalem, annektierten Gebiet. Gleichzeitig verweist die Definition auf die Problemstellungen, die im Rahmen einer endgültigen Lösung für die israelisch besetzten Gebiete zwangsläufig aufgeworfen werden, vor allem weil die israelische Regierung nach wie vor eine palästinensische Eigenstaatlichkeit ablehnt.

Wenn auch in der augenblicklichen Diskussion das Projekt einer Autonomie für Gaza und Jericho „zuerst“ im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht, so muß doch festgehalten werden, daß die israelisch-palästinensische Grundsatzerklärung in ihrer Intention deutlich darüber hinausweist. Analog zum Nahost- Friedensprozeß, der mit der Madrider Konferenz Ende Oktober 1991 eingeleitet wurde, ist in den 17 Artikeln der Erklärung zugleich ein Verfahren festgelegt worden, das zu einer endgültigen Regelung führen soll, sämtliche strittigen Punkte (den Status Jerusalems, die Rückkehr der Flüchtlinge von 1967...) jedoch ausdrücklich inhaltlich offenläßt. In dem Text heißt es explizit, daß das Ergebnis der späteren Verhandlungen – hierfür ist ein Zeitplan anvisiert – nicht durch Vereinbarungen, die in der Zwischenzeit geschlossen werden, beeinträchtigt werden darf. Ohne diesen Passus wie auch die Formulierung, daß der Gaza-Streifen und die Westbank in der fünfjährigen Übergangsphase als territoriale Einheit betrachtet werden, hätten sich die Palästinenser nicht auf die Teilautonomie für Gaza und Jericho eingelassen. Denn zumindest theoretisch ist die Option eines unabhängigen Palästinenserstaates damit nach wie vor offen.

Doch bis es zur Wahl eines palästinensischen Übergangsrates für die besetzten Gebiete und, damit verbunden, dem Abzug der israelischen Truppen aus den Bevölkerungszentren kommt, werden sich alle Augen zunächst einmal auf die Entwicklung im Gaza-Streifen und der Region Jericho richten und sozusagen die Autonomie im Laboratorium beobachten. Welche Gestalt wird die innere palästinensische Ordnung annehmen, die sich dort jetzt etablieren muß? Wie wird sich das Verhältnis zwischen den PLO-Funktionären aus dem Exil und jenen Palästinensern gestalten, die jahrelang der israelischen Besatzung getrotzt haben? Wie wird eine „starke“ palästinensische Polizei (die in der Erklärung gleich dreimal erwähnt wird) mit denjenigen Kräften in der Gesellschaft umspringen, die den von PLO-Chef Arafat eingeschlagenen Weg ablehnen? Wird es schließlich konkrete Verbesserungen, gerade auch in wirtschaftlicher Hinsicht, für die Bevölkerung geben, werden die Grenzen nach Israel hin wieder durchlässig, wird die Familienzusammenführung erleichtert? Hier sind schnelle, für die einzelnen spürbare Maßnahmen notwendig, auch um die Akzeptanz der Übereinkunft in der palästinensischen Gesellschaft zu erhöhen.

Die Gefahr ist noch nicht gebannt, daß aus „Gaza und Jericho zuerst“ ein „Gaza und Jericho zuletzt“ wird. In den besetzten Gebieten wird nicht von heute auf morgen Frieden einkehren, es wird weitere Anschläge, Repressionsmaßnahmen, Aktionen militanter Siedler und Kämpfe um Südlibanon geben, es wird zu Stagnation bei den Verhandlungen und zu neuerlichen Sackgassen kommen, und der anvisierte Zeitplan wird möglicherweise nicht eingehalten werden können. Aber immerhin, beide Seiten haben sich zunächst einmal auf ein Procedere geeinigt. Und beide Seiten, Israel wie die PLO, stehen unter dem Zwang des Erfolges. Jitzhak Rabin und Jassir Arafat sind, so gesehen, derzeit die engsten Verbündeten, weil ihr politisches Schicksal miteinander verknüpft ist. Die logische Konsequenz aus dieser Situation wäre im Grunde eine „echte“ Autonomie, also ein föderativer, binationaler Staat, in dem Juden und Palästinenser zusammenleben. Doch das ist wohl selbst angesichts der jüngsten rasanten Entwicklung im Nahen Osten eine Utopie zuviel. Beate Seel