Qualität gefragt in Wladiwostok

Von westlichen Geschäftsleuten bleiben meist nur die Visitenkarten zurück / Kaum Interesse an asiatischen Billigprodukten  ■ Aus Wladiwostok Donata Riedel

Wladiwostok bedeutet „kontrolliere den Osten“. Der Name ist seit jeher Programm: früher für die Kriegsflotte, heute für Geschäftsleute aus aller Welt. „Der Ferne Osten wartet nur auf Ihre Exporte“, bittet die englischsprachige Wladiwostok News gezielt US-Geschäftsleute um eine massive Invasion. Die kommen zwar gruppenweise, um Stadt und Leute kennenzulernen, seit die US-Fluggesellschaft Alaska Airlines regelmäßig Wladiwostok anfliegt –, aber bisher investierten sie kaum.

Nach den Chinesen, die als erste über die nahe Grenze kamen und Rußlands Fernen Osten in blaue Billig-Trainingsanzüge kleideten, sind es Japaner und vor allem südkoreanische Händler, die der Aufforderung Folge leisten. „Wir haben den Auftrag, den russischen Markt für Südkorea zu erschließen“, sagt Ju Die Seung, Vizepräsident der Cheon Ji-Handelsgesellschaft. Ju exportiert „alles“ aus dem russischen Fernen Osten, was möglich ist, vor allem Buntmetalle und Mineralien. Umgekehrt führt er Kleidung und Nahrungsmittel nach Wladiwostok ein –, jene Güter, auf die Rußland derzeit keinen Zoll erhebt.

Ju arbeitet mit Unterstützung der von Seoul aus zentral gelenkten Handelsorganisation „Kotra“ und des Konsulats. Gemeinsam residieren die Südkoreaner im „Haus des Baugewerbes“, dem baufälligsten Gebäude der Innenstadt in der Straße des 25. Oktober, die ihren Namen der Revolution von 1917 verdankt.

So richtig in Schwung gekommen ist die Markteroberung trotz der generalstabsmäßigen Planung bisher aber nicht. In den zweieinhalb Zimmern der Cheon Ji Handelsgesellschaft stapeln sich südkoreanische Konservendosen, hängt Kleidung an Ständern neben dem Faxgerät. Daß die Räume auch nach anderthalb Jahren provisorisch wirken, begründet Ju mit den vielfältigen Schwierigkeiten, auf die ausländische Geschäftsleute in Wladiwostok stoßen: Mit der Regierung gibt es häufig Auseinandersetzungen um die notwendigen Im- und Export-Genehmigungen. Außerdem fehlen richtige Banken, so daß sämtliche Geschäfte in bar abgewickelt werden müssen. Das mache größere Geschäfte de facto unmöglich, so Ju.

Ab Oktober will er den schleppenden Geschäften mit einer Lebensmittel-Verkaufsausstellung im Souterrain auf die Beine helfen. „Die Russen müssen erst mal lernen, was gutes Essen ist. Es fehlt ihnen da an Kultur“, begründet er die geplante Ausstellung südkoreanischer Konservendosen.

Vom Sinn dieses pädagogischen Unterfangens hat Ju allerdings nicht einmal seine russische Assistentin Lena Swobodna überzeugen können. Joint-venture-Projekte mit südkoreanischen Firmen seien zwar gerade die neueste Mode in Wladiwostok, sagt Swobodna abschätzig. „Aber die sind genauso zum Scheitern verurteilt wie die chinesischen, die jetzt reihenweise pleite gehen.“ Denn Russen wollten keine asiatischen Produkte, sondern europäische –, besonders wenn's ums Essen und um Kleidung gehe. Ähnlich skeptisch äußert sich zwei Etagen höher Natalja Kornuchowa, die den russischen Markt erforscht. „Die Zeit der Billigprodukte ist vorbei, die Leute wollen jetzt Qualität“, sagt sie. „Und Qualität heißt Westeuropa oder USA.“

Über das nötige Geld für den Qualitätskauf verfügen viele Wladiwostoker. Schon zu Sowjetzeiten bekamen Seeleute und Fischer, rund 14 Prozent der Bevölkerung, ein Drittel ihres Lohnes in Hartwährungen ausbezahlt –, Startkapital für's zunächst illegale Importgeschäft. Mit japanischen Gebrauchtwagen sowie Kassetten- und Videorekordern aus Hongkong machte manch einer bereits ein kleines Vermögen, als die Stadt noch offiziell geschlossen war.

Während heute in Wladiwostoks Partnerstadt Niigata japanische Geschäftsleute Hilfslieferungen für die Alten und Armen organisieren, kann sich eine wachsende Mittelschicht Äpfel aus Neuseeland, japanisches Dosenbier, Multivitaminsaft aus Deutschland und Schokoriegel aus den USA leisten. Diese importierten Lebensmittel sind überall in der Stadt auf den Märkten und an den Kiosken zu haben –, zu westeuropäischen Preisen.

Wie überall in Rußland tobt auch in Wladiwostoks Kommunalpolitik der Kampf zwischen Reformern und Altkommunisten. Die Kleine Privatisierung von Einzelhandelsgeschäften und Kneipen ist längst noch nicht so weit fortgeschritten wie in Moskau. Soll die Stadt ihre Läden bei den Privatisierungsauktionen gleich mitverkaufen, oder sie zunächst vermieten, um sich einen Rest Kontrolle und Einnahmen für die Stadtkasse zu sichern?, lautet einer der Konflikte, der sich am Sortiment der privaten Läden entzündet hat.

Denn der erste privatisierte Gemüseladen verkauft heute Unterhaltungselektronik. Etliche früher staatlich beschäftigte VerkäuferInnen sehen sich gezwungen, neben Lebensmitteln noch einige schnelle Rubel mit Importgütern zu machen, um den auf der Privatisierungsauktion zugesagten Kaufpreis für ihren Laden aufzubringen. Besonders den neuen Armen fehlt der Glaube an die Marktkräfte, wonach ja immer irgendjemand Brot anbieten müßte, solange es eine Nachfrage gibt.

In der Region produzierte Güter sind zwar deutlich billiger als Importe, sie drohen aber zur Mangelware zu werden. „Niemand will mehr in der Produktion arbeiten“, beobachtet der Seemann Walerij Popow. „Alle wollen im Im- und Export möglichst schnell reich werden.“ Schon haben die Industriebetriebe Probleme, qualifizierte junge Leute zu bekommen.

Die noch staatliche Industrie, in und um Wladiwostok vor allem Schiffbau, Fischverarbeitung und Rüstung, setzt inzwischen auf Kooperation. Kürzlich gründeten die Direktoren der wichtigsten Betriebe eine Holdinggesellschaft namens PAKT, die von den nicht beteiligten Industriellen als Kartell geschmäht wird. PAKT reklamiert für sich das Recht, nach japanischem Muster einen Mischkonzern aufziehen zu dürfen, in dem von den Rüstungsbetrieben über die Fischverarbeiter und Schiffbauer auch die Fleischverpacker integriert sind. Erklärtes Ziel der PAKTierer ist allerdings auch das Lobbying auf allen politischen Ebenen zugunsten der (noch nicht privatisierten) Industrie.

Während der Umstellungsphase auf Marktbedingungen interessiert sich kaum ein ausländischer Investor für eine Industrie- Beteiligung. Ein Diplomat im Wladiwostoker US-Konsulat betont zwar das „große Interesse aus allen Branchen“ an der Region und verweist auf seine große Sammlung von Visitenkarten aller möglicher US-Geschäftsleute. Gleichzeitig gibt er aber zu, daß er selbst zur Zeit die Arbeit des Konsulats im politischen und kulturellen Bereich als bedeutender einschätzt.

Neben der allgemein unsicheren politischen Lage mißtrauen die US-Geschäftsleute generell ihren potentiellen russischen Partnern im „Wilden Osten“. Diesem eingängigen Klischeebegriff huldigt selbst das seriöse Wall Street Journal, das die meisten US-Geschäftsleute zu Hause täglich lesen. „Sind diese neuen Reichen nicht alle irgendwie Mafia?“ lautet folgerichtig eine der beliebtesten Smalltalk- Eröffnungen unter „Westerners“ in der Lobby des Intourist-Hotels „Wladiwostok“.

Russische Geschäftsleute zucken darüber nur noch resigniert die Schultern. Viele tragen die zerknitterte Kopie eines Artikels aus der Herald Tribune vom 1. Juni mit sich herum, den sie jeder Ausländerin und jedem Ausländer sofort zeigen. Darin werden die Straßen der Stadt zum lebensgefährlichen Pflaster stilisiert, in denen an jeder Ecke Messerwerfer und Pistoleros lauern. „Das ist so unfair gegenüber den Leuten“, meint der US- Amerikaner Richard Thomas, ein Übersetzer, der der Liebe wegen in Wladiwostok geblieben ist und heute Mitherausgeber der englischsprachigen Wochenzeitung Wladiwostok News ist.

Getreu dem Lehrsatz, daß Wirtschaft mindestens zur Hälfte Psychologie sei, versucht die Redaktion der 1989 gegründeten Tageszeitung Wladiwostok mit Optimismus gegen die Negativ-Klischees anzugehen. „Sicher gibt es auch Joint-ventures im Produktionsbereich“, sagt Wirtschaftsredakteur Viktor Korytko. Doch nach Beispielen gefragt, fallen ihm nur solche aus dem Handels- und Gastronomie-Bereich ein: Der kalifornische Emigrant, der den ganzen russischen Fernen Osten mit seiner Schnellfreßkette „Magic Burger“ überziehen will und das chinesisch- russische Joint-venture-Restaurant „Oasis“ am Yachthafen.

Als besonders erfolgreich gilt das russisch-japanische Joint-venture „Acfes“, das zunächst mit japanischen Gebrauchtwagen Geld machte, und dieses jetzt in ein Luxushotel für japanische Geschäftsreisende investiert hat. Im Hotel „Acfes-Seiyo“ übrigens sind „Russen als Gäste unerwünscht“, wie der russische Geschäftsführer Eduard Gringer sagt. Der besondere Clou: Die Zimmermädchen und Empfangsdamen sind mausgrau uniformiert, um den Gästen den „Schock der russischen Mode zu ersparen“, so Gringer. Die Mode sieht in diesem Jahr Dekolletés bis zum Bauchnabel und knappeste Minis vor.

Für die Zielgruppe „japanischer Geschäfsreisender“ ist ein weiteres Hotel im Zentrum im Bau, außerdem gibt es drei japanisch-russische Gaststätten. Deren Erfolg scheint allerdings zweifelhaft, traut man dem Urteil eines japanischen Gastes: „Dort ißt man mäßiges russisches Essen mit Stäbchen.“