Karenztagemodell braucht Pflege

Eins hat die gestrige Anhörung der Bundestagsausschüsse für Arbeit und Recht in Bonn deutlich gezeigt: Außer der Koalition sind alle gegen Abstriche bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zur Finanzierung der Pflegeversicherung.

Niemand will sie haben: weder Arbeitgeber noch Gewerkschaften, weder Krankenkassen noch Ärzte. Gestern ging der Streit um die Karenztage in eine neue Runde. Die Bundestagsausschüsse für Arbeit und Recht veranstalteten eine Anhörung zum Gesetzentwurf der Koalition.

Seit über einem Jahr wird über die Einführung der Karenztage zur Finanzierung der Pflegeversicherung diskutiert. Nur noch die Bundesregierung hält es für eine gute Idee, daß malade Arbeitnehmer an bis zu sechs Arbeitstagen im Jahr auf ihr Einkommen oder Urlaub verzichten sollen, um die Mehrbelastung der Wirtschaft durch die Beiträge zur Pflegeversicherung auszugleichen.

Die Haltung der Gewerkschaften ist eindeutig. Wenn sie wahrmachen, was sie androhen, wird 1994 nicht nur ein Mammutwahljahr, sondern ein Jahr härtester Tarifkämpfe bis hin zu Streiks in zahlreichen Branchen. Tausende von Tarifverträgen, in denen die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall für rund 22 Millionen Arbeitnehmer geregelt ist, müßten neu verhandelt werden, erklärte gestern die stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Ursula Engelen-Kefer.

Sie bekräftigte, wenn es für die Arbeitgeber einen Ausgleich der Mehrbelastung durch die Pflegebeiträge geben solle, dann müsse dies auch für Arbeitnehmer gelten. Die Fianzierung der Pflegeversicherung soll bisher zur Hälfte über Areitnehmerbeiträge, zur anderen Hälfte über Karenztage erfolgen.

IG-Metall-Vorstandsmitglied Horst Schmitthenner erinnerte daran, daß die Lohnfortzahlung für Arbeiter 1956 in dem mit 16 Wochen längsten Arbeitskampf in der Geschichte der Bundesrepublik durchgesetzt worden war.

Die Position, die die Gewerkschafter drinnen in der Bonner Beethovenhalle vertraten, wurde von KollegInnen draußen kräftig unterstützt. Mit gellenden Trillerpfeifkonzerten und Diskussionsrunden vertrieben sich rund 3.000 Demonstranten die Zeit, während die Abgeordneten im Saal fast nur Negatives über die Karenztage hörten. „Pflege ja — Karenztage nein“, stand auf ihren Plakaten.

Die Pflegeversicherung müsse praktikabel sein, den Menschen zugute kommen und dürfe die Wirtschaft nicht belasten. So hatten die Bonner Koalitionäre letztes Jahr getönt. Mit ihrem Gesetzentwurf soll nicht nur die Fortzahlung im Krankheitsfall für Arbeiter und Angestellte sowie geringfügig Beschäftigte vereinheitlicht, sondern auch Mißbrauch bekämpft werden. Tarifverträge, die ihren Plänen entgegenstehen, will die Koalition aufheben.

Zur Zeit brauchen in der Bundesrepublik rund 1,6 Millionen meist ältere Menschen Pflege. In den kommenden 50 Jahren wird sich der Anteil der mehr als 65jährigen verdoppeln und dadurch auch der Anteil der Pflegebedürftigen zunehmen. Bereits jetzt haben 350.000 Menschen nicht genug Geld für einen Platz im Altenpflegeheim, der durchschnittlich 4.000 Mark im Monat kostet. Diese Kosten werden derzeit von der Sozialhilfe getragen. Die Pflegeversicherung soll das Risiko eines Plfegefalls zukünftig absichern.

Die Verbände der Arbeitgeber und der Wirtschaft äußerten die Befürchtung, daß die Tarifparteien vom Gesetzgeber mit dem Konflikt um die Karenztage belastet würden. Sie sprachen sich grundsätzlich für Maßnahmen gegen angebliche Mißbräuche bei den Krankmeldungen aus. Dabei seien Karenztage jedoch kein „Königsweg“.

20prozentige Abschläge beim „Krankenlohn“ gegenüber dem Normaleinkommen finden die Arbeitgeber besser. Jedoch könne eine solche Maßnahme nicht als Finanzierung der Pflegeversicherung dienen. Außerdem haben die Arbeitgeber — ebenso wie die Gewerkschaften — erhebliche Zweifel, ob die Aufhebung der geltenden Tarifverträge überhaupt verfassungskonform ist.

Der Verband der Angestellten- Krankenkassen kritisierte die Karenztage als „Strafsteuer bei Krankheit“. Die Ärzteorganisation Hartmannbund sprach von einer „Bestrafung chronisch Kranker“. Auch der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) forderte den Verzicht auf die Karenztage. „Selten hat ein Gesetzesvorhaben derart einhelligen Protest von allen Sachverständigen hervorgerufen“, erklärte der Verband.

Daß die Versicherung wie von der Koalition geplant mit einer ersten Stufe 1994 in Kraft treten könne, bezweifelte der SPD-Sozialpolitiker Rudolf Dreßler. Dies sei schon aus organisatorischen Gründen nicht mehr zu schaffen. Der Vorsitzende des Arbeitsausschusses, Günther Heyenn (SPD), forderte die Koalition auf, den Gesetzentwurf über die Karenztage zurückzuziehen, da sich in der Anhörung kein Befürworter dieser Maßnahme gefunden habe. bam