Stau-Auflöser basteln an „grüner Welle“

165 Kreuzungen sind auf einer „Stau-Karte“ markiert / Ampel-Team in der Verkehrsverwaltung konnte an 20 Stellen in der Stadt den „Stau auflösen“ / Doch trotz Kollege Computer muß jede Schaltung manuell ausgerechnet werden  ■ Von Dirk Wildt

Die „Stau-Karte“ hängt an der Wand. Der Raum im neunten Stock der Verkehrsverwaltung diente bislang als Sitzungssaal, doch weil das Referat „technische Steuerung des Straßenverkehrs“ im vergangenen Monat auf 21 Stellen nahezu verdoppelt wurde, wurde das geräumige Zimmer kurzerhand umfunktioniert. 165 Punkte kleben auf dem überdimensionierten Schwarzweiß- Stadtplan – alle markieren Staus, überwiegend an Kreuzungen im Westteil der Stadt. „Die Ostbezirke melden Staustellen nur selten“, weiß Referatsleiter Konstantin Wardakas zu berichten. Seit Anfang Februar werden auf dem Plan jene Kreuzungen markiert, an denen der Autoverkehr ins Stocken gerät. Die Meldungen kommen neben den Bezirken auch vom ADAC und von Taxifahrern. „An 20 Knotenpunkten konnten wir den Stau bereits abbauen“, sagt der 55jährige Verkehrsingenieur.

Wardakas hat sein Büro im dritten Stock. Dort liest Mitarbeiter Michael Leucht vom Bildschirm gerade ab, wie stark die Kreuzung Entlastungstraße/Straße des 17. Juni belastet ist. Für jedes Auto senden sogenannte – in die Fahrbahn einasphaltierte – Schleifen einen Impuls an einen zentralen Rechner. Die Daten gehen weiter zur Verkehrsverwaltung an der Urania – auf Leuchts Bildschirm. Anhand der Tabellen kontrolliert der 38jährige, ob die Ampeln entsprechend des Bedarfs geschaltet werden. Je nach Anzahl der Autos, Radfahrer und Fußgänger wählt die Anlage einen von 27 Schaltplänen aus. Leucht überprüft, ob die Verkehrsteilnehmer bei verbesserten Schaltungen in den Genuß kürzerer Wartezeiten kommen.

Auf dem Schreibtisch von Wardakas Büro liegt ein zwei Meter langer, Din-A4-breiter Papierstreifen. Schwarze, grüne und rote Balken bilden ein genauso langes Diagramm. „Das ist die Kantstraße“, erläutert Wardakas, der seit 22 Jahren in der Verwaltung arbeitet. Der Referatsleiter versucht, in der Kantstraße die Ampeln wieder autofreundlich zu schalten. Unter dem rot-grünen Vorgängersenat war die eingerichtete „grüne Welle“ zu einer „roten“ geändert worden, so daß die Straße für Pendler unattraktiv wurde. Verkehrssenator Herwig Haase (CDU), dessen Partei mit dem Versprechen „Wir lösen den Stau auf“ in den Wahlkampf gegangen war, paßt die „politische“ Ampelschaltung nicht.

Gründe für die Änderung oder erstmalige Berechnung von Schaltungen sind aber vor allem Ampeln, die neu in Betrieb gehen, oder Baustellen, neue Markierungen sowie der Umbau von Straßen, die zu verändertem Verkehrsverhalten führen – und insbesondere, weil der Stau „aufgelöst“ werden soll. Um eine „grüne Welle“ zu schalten, sei ein Abstand von 350 Metern von Ampel zu Ampel ideal, sagt Wardakas, doch besonders in Berlin gebe es eine „enorme Dichte“ von Lichtsignalanlagen. In der Kantstraße stehen die Peitschenmaste teilweise nur 87 Meter auseinander, eine optimale Schaltung für den Autoverkehr sei nahezu unmöglich. Seit 8. August fummelt der Stauauflöser an der Innenstadt-Straße herum, spielt im Computer für jede Ampel Schaltkombinationen durch.

Grundsätzlich soll trotz „grüner Welle“ jeder Verkehrsteilnehmer, ob nun Fußgänger, Rad- oder Autofahrer, die Möglichkeit haben, innerhalb von sechzig Sekunden eine Kreuzung zu überqueren oder die Straßenseite zu wechseln. Wenn aber wie auf der kilometerlangen Kantstraße nicht durchgehend Grün geschaltet werden kann, probieren die Verkehrsingenieure auf dem Papier auch längere „Umläufe“ aus: Dann kann es einem Fußgänger schon passieren, daß er bis zu 80 Sekunden warten muß, bevor er gehen darf.

In der Regel sehen die Ingenieure der Verkehrsverwaltung aber nicht nur von den langen Wartezeiten ab, weil sie von den Verkehrsteilnehmern viel Geduld erfordern, sondern auch, weil an benachbarten Ampeln die Umlaufzeit geändert werden muß. „Das macht die Angelegenheit schnell kompliziert“, sagt Wardakas.

Auch wenn das 21 Mann starke Team, zu dem zwei Frauen zählen, seine Rechnungen inzwischen am Computer erledigt, ist es bislang nicht möglich, dem Automaten einfach mitzuteilen, von wo bis wo der Autofahrer Grün haben soll. Das muß alles selbst ausgerechnet werden. Inzwischen teilt der Computer dem Verkehrsingenieur wenigstens mit, daß es „knallt“, weil etwa die einen noch und die anderen schon wieder Grün haben. Dafür müssen allerdings in einem ersten Schritt alle Daten jeder einzelnen Kreuzung mit all ihren Ampeln, Fußgängerüberwegen, Abbiegemöglichkeiten und selbst Entfernungen wie etwa zwischen Straßenseite und Mittelinsel manuell eingegeben werden. Von den insgesamt rund 1.800 Kreuzungen mit Ampeln in Berlin sind 500 in das Rechenprogramm eingelesen worden.

Glauben die Verkehrsingenieure an der Urania beispielsweise, für die Kantstraße eine optimale Schaltung gefunden zu haben, werden die Ampeln von einem Tag auf den anderen umgeschaltet. Dann sind 10 bis 15 Ingenieure vor Ort und gucken an verschiedenen Kreuzungen, „was passiert“, berichtet Wardakas. Am grünen Tisch könne nicht alles berücksichtigt werden, nichts gehe über die Praxis. Bis zu vier Wochen dauerten die immer wieder neuen Beobachtungen, manches Schaltprogramm muß währenddessen nachgearbeitet werden.

Im Westteil der Stadt sind etwa 1.350 Ampeln mit 21 dezentralen Rechnern verbunden. Die Daten dieser Rechner wiederum fließen unmittelbar in den Großcomputer in der Regelungszentrale in der Friesenstraße. Fällt beispielsweise eine Ampel aus, leuchtet ein entsprechendes Lämpchen auf dem Plan in der Zentrale, und die Firma Siemens, die die Signalanlagen wartet, repariert innerhalb einer Stunde den Defekt vor Ort. Im Ostteil der Stadt gibt es erst einen dezentralen Rechner – im Roten Rathaus. Zwei weitere rund 3,5 Millionen Mark teure Kästen voller Mikrochips sollen dieses Jahr dazukommen. Rund 50 Millionen Mark jährlich gibt die Bauverwaltung für Ampeln, Computer und das Verlegen von Leitungen aus.

Bislang lenken im Ostteil bis zu sechs benachbarte Ampelanlagen abhängig voneinander den Verkehr. Doch auch in den Westbezirken ist das System trotz Hunderten von Kilometern Kabel, die Ampeln mit Rechnern und Regelungszentrale verbinden, erstaunlich simpel. Einmal programmiert, schalten die Ampeln von Grün auf Gelb und Rot und umgekehrt, egal, was kommt.

Wardakas träumt aber schon von der automatisierten Zukunft. Das Programm an der Kreuzung Entlastungsstraße/17. Juni mit 27 Schaltplänen ist jedenfalls nur „halb schlau“. Selbst wenn in der Nacht auf dem 17. Juni kein Auto angerollt kommt, schaltet die Ampel einmal innerhalb der obligatorischen 60 Sekunden auch diese Fahrtrichtung auf Grün und hält den Verkehr auf der Entlastungsstraße unsinnigerweise auf, erklärt Wardakas. Eine vollautomatische Variante wird dagegen in Steglitz an der Kreuzung Feuerbach-/Körnerstraße ausprobiert. Dort schaltet die Ampel die Hauptrichtung erst auf Rot, wenn tatsächlich ein Fußgänger, Radfahrer oder ein anderes Auto kreuzen will. Fußgänger und Biker müssen per Knopfdruck ihr Grün anfordern, Autos werden von einer Schleife unter der Fahrbahn erkannt – innerhalb einer Minute bekommt jeder freie Fahrt.

Den 20 Leuten von Wardakas droht vorerst keine Arbeitslosigkeit. Und der Referatsleiter ist zuversichtlich, daß sein Team Punkt für Punkt von der Stau-Karte abarbeiten werde. Daß auf den Straßen in absehbarer Zeit weder etwas vor- noch zurückgehen werde, weil der Autoverkehr um ein Fünftel zunimmt, wie eine Studie von Daimler-Benz nahelegt, glaubt Wardakas nicht: „Wir haben auf den Straßen noch ungeheure Kapazitäten.“ Doch den Stau auflösen, wie einst von der CDU vor der letzten Abgeordnetenhaus-Wahl versprochen, könnten auch beste Schaltprogramme nicht, sagt Berlins Ampel-Chef – denn gegen Baustellen und Parken in zweiter Reihe helfe keine „grüne Welle“.