Vom Schuft zum Märtyrer

Empörung in Frankreich, nachdem die UEFA den Cup-Verteidiger Olympique Marseille wegen der Bestechungsaffäre von der Teilnahme am Europapokal ausgeschlossen hat  ■ Aus Paris Bettina Kaps

„Olympique Marseille ist zerschlagen“, hingerichtet von den „Scharfrichtern“ der Europäischen Fußballunion (UEFA). In diesen Tönen kommentieren die französischen Medien die Entscheidung der UEFA, den diesjährigen Europacup-Sieger von allen Spielen der Europacup-Runde 1993/94 auszuschließen. Von der Rolle des Schuftes ist der skandalumwitterte Verein mit einem Mal in die des Märtyrers geschlüpft.

Doch die UEFA schert sich nicht um französische Empfindlichkeiten, sie will endlich reinen Tisch machen. Schließlich steht schon seit Ende Mai fest, daß zumindest ein OM-Spieler einen Spieler des Clubs Valenciennes bestochen hat. Die UEFA wirft den französischen Verantwortlichen vor, daß sie der Affäre nicht entschieden genug nachgegangen sind. Es schade „dem Fußball und den internationalen Wettbewerben“, daß die Französische Fußballvereinigung (LNF) auch ein Vierteljahr nach dem Bekanntwerden der Unregelmäßigkeiten noch keine disziplinarischen Konsequenzen gezogen habe, heißt es in dem UEFA-Kommuniqué. Für die Dauer der kommenden Saison ist die Entscheidung unwiderruflich: Olympique Marseille darf seinen Titel nicht verteidigen. OM will jetzt auf juristischem Weg gegen diese Entscheidung vorgehen.

Ganz Frankreich ist empört, daß die UEFA diese Sanktion beschlossen hat, obwohl überhaupt nicht feststeht, wer genau hinter der Bestechung steht. Aus diesem Grund hatte auch die Nationale Fußball-Liga noch keine Entscheidungen getroffen. „Es schockiert, daß sich das Urteil auch nicht um die geringsten Garantien schert, die man Angeklagten schuldet. Schließlich leben wir doch in einem Rechtsstaat, wo die Unschuldsvermutung existiert“, kommentierte etwa Libération. Olympique wird vorgeworfen, daß der Verein bei seinem letzten Match vor dem Europacup-Finale mehrere Spieler des französischen Clubs Valenciennes bestechen wollte, damit sie lediglich „den Fuß heben“. Obwohl OM als Meister praktisch schon feststand, wollte die Mannschaft das Spiel locker gewinnen, um dann entspannt in das Finale gegen den AC Mailand gehen zu können. Die französische Fußballnational-Liga erhob daraufhin Klage. Doch obwohl der Untersuchungsrichter und der Staatsanwalt mit teilweise ungewöhnlich harten Methoden versuchten, die Affäre schnell und entschieden zu klären, steht bis heute nicht mehr fest als ganz zu Anfang: Drei Spieler aus Valenciennes haben den Erpressungsversuch bestätigt, nur einer gab zu, daß er tatsächlich Geld erhalten hat; die Summe von 75.000 Mark wurde bei Christophe Robert gefunden.

Der Marseiller Spieler Jean- Jacques Eydelie gab seinerseits den Korruptionsversuch zu. Vereinsdirektor Jean-Pierre Bernès habe ihn beauftragt, sagte er. Dieser leugnet jedoch beharrlich. Diese drei Personen dürften in Kürze wegen Korruption angeklagt werden; es ist jedoch ungewiß, ob die Beweise für eine Verurteilung ausreichen.

Weitere Vorwürfe und Verdächtigungen haben die Affäre in den Sommermonaten zur spannenden Fortsetzungsserie werden lassen, die wochenlang die Nachrichtensendungen beherrschte. Pikant ist sie vor allem deshalb, weil Olympique Marseille den prominenten und schillernden Politiker und Manager Bernard Tapie zum Präsidenten hat. Der Abgeordnete Tapie, der kurze Zeit Minister für Stadtentwicklung war und noch höhere Ambitionen hat, wurde vom ehemaligen Trainer von Valenciennes, Boro Primorac, in die Affäre gezogen. Primorac behauptet, Tapie persönlich habe ihm Geld und einen neuen Posten angeboten, falls er die Verantwortung für den Bestechungsskandal auf sich nehmen würde. Im Juli wurde deshalb ein zweites Verfahren wegen Zeugenbestechung eröffnet. Auch hier gibt es bislang erstaunliche Ungereimtheiten, aber keine Beweise. So zauberte Tapie erst drei Wochen nach den Beschuldigungen ein prominentes Alibi aus dem Hut: Sein ehemaliger Ministerkollege Jacques Mellick, der heutige Bürgermeister der nordfranzösischen Stadt Béthune, sei zu genau der Stunde bei ihm in seinem Pariser Büro gewesen, die Primorac angab.

Mellick bestätigt das Alibi – nur dummerweise gibt es Fotos, wonach er zu dem umstrittenen Zeitpunkt an einer Feier in Béthune teilnahm. Der Chauffeur wurde verhört, die Gäste der Feier, Mellicks Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, verbrachten Tage auf der Polizeiwache – doch trotz modernster Ermittlungstechniken scheint es unmöglich, die Wahrheit über den Tagesablauf der beiden Ex- Minister herauszufinden.

Tapie muß sich aber noch mit einem anderen Ärgernis herumschlagen: Die Kontrollbehörde der LNF rechnete in Marseille die Konten des Clubs nach. Gerüchten zufolge hat Olympique enorme Schulden. In jedem Fall brockt die Entscheidung der UEFA Frankreichs Vorzeigeclub riesige Verluste ein; Tapie selbst schätzte den Einnahmeverlust auf über 100 Millionen Mark. Marseille wartet jetzt gespannt auf die Entscheidung des Club-Präsidenten, der am Wochenende noch mit seiner Demission gedroht hatte. Da er persönliches Geld in den Verein gesteckt hat, könnte er nun die besten Spieler verkaufen, so die Sorge der OM-Fans. Damit wären allerdings seine Ambitionen auf den Bürgermeistersessel der Millionenstadt völlig zunichte gemacht.

Bis morgen muß die LNF nun einen anderen Verein vorschlagen, der den Europacup bestreiten soll. Der zweitbeste französische Club Paris-Saint-Germain hat das Angebot bereits abgelehnt.