Sich selbst wie ein Monument

Vertrackt, hybrid, schrill: Die Arbeiten von Ettore Sottsass sind nur so etwas Ähnliches wie Möbel. Eine Ausstellung in den Deichtorhallen Hamburg  ■ Von Ulf Erdmann Ziegler

Die meisten der in der Hamburger Deichtorhalle-Süd gezeigten Arbeiten stammen aus den vergangenen zwölf Jahren, sind also, da Ettore Sottsass 1917 geboren wurde, mühelos als Alterswerk auszumachen. Wie schon Brancusi und Matisse vor ihm, hat auch Sottsass sich freigemacht von einem (eingebildeten) übergeordneten Auftrag, hat sich in ein Niemandsland der Genres befördert. Selbst die einfachste Zuordnung: Ob es sich um angewandte oder freie Kunst handelt, ist nicht mehr zu entscheiden. Daß Zdenek Felix, der Leiter des Hamburger Prestigeunternehmens Deichtorhallen, ihm eine Ausstellung widmet, die „noch nicht einmal“ eine Retrospektive ist, spricht für die Offenheit seiner Wahrnehmung.

Gegenüber, in der nördlichen Halle, läuft die Andy-Warhol- Show aus, und die Überschneidung macht Sinn. Ettore Sottsass, Sohn eines Architekten, hatte selbst Architektur studiert und nach dem Krieg simple Häuser für ein Sozialprojekt entworfen, noch der Vorstellung des „dienenden“ Entwurfs zugeneigt. Entscheidend war die Begegnung mit der amerikanischen beat-Kultur, insbesondere die Freundschaft mit Allen Ginsberg; pop hat in seinem Werk deutliche Spuren hinterlassen. Selbst die Gruppe, mit deren internationalem Erfolg Sottsass' Name sich im Gedächtnis auch von Leuten festgesetzt hat, die nicht auf Design spezialisiert sind, nannte sich Memphis, weil man in der Nacht der Namenssuche die Dylan-Platte mit „Stuck Inside of Mobile with the Memphis Blues Again“ vergessen hatte, vom Plattenteller zu nehmen. Das war Anfang der achtziger Jahre. Im Produktdesign – in einer erweiterten Definition der Gattung – ist Memphis zum Synonym von „Postmoderne“ geworden.

Befreit vom Gestrüpp dieser unsäglichen Debatte, erstrahlt das Werk von Sottsass erst richtig in seiner Kraft und Herrlichkeit: am Eingang grüßt „Carlton“, ein New- Wave-buntes Regal von 1981, das aussieht wie die skulpturale Umsetzung eines Roboterpiktogramms: schräg aufsteigende Regalseitenteile ragen wie empfangsbereite Ärmchen in die Luft, der Kopf gleicht einem leergepusteten TV-Gehäuse und im Darmbereich der anthropomorphen Figur sind zwei rote Schubladen eingelassen. Ein englisches Designlexikon identifiziert das zwei Meter hohe Ungetüm als Anrichte, im Nachweis der Deichtorhallen firmiert „Carlton“ als Bücherregal. Da in keines der gezeigten Objekte – von dem weißen Bettzeug in den Betten abgesehen – funktionszuweisende Gadgets eingesetzt wurden, bleiben die Arbeiten, was sie sind: Grobe Angriffe auf den Hausgebrauch.

Gerade in seiner Entfernung von den Standards des Industriedesigns hat Sottsass zu seinen ureigenen Formen gefunden. Nicht umsonst heißt eine Keramikvase „Me stesso“ (Ich selbst) und ein Schrank „Un mio sistema personale“ (Ein persönliches System für mich). Das persönliche System von 1992 ist von allen gezeigten Arbeiten vielleicht der gelungenste Angriff auf den guten Geschmack: über einem schwarzen Sockel schweben bunte Flächen, deren Farbgebung und -aufteilung (schrill und zugleich vollkommen leblos) wirken wie die Reste eine Druckvorgangs oder Frank Stellas Entwurf eines Altarbilds.

Wie meist bei Memphis-Möbeln, ist die Oberfläche aus Kunststofflaminat, einem makellosen synthetischen Furnier, das auf geradezu unheimliche Weise Licht wegsaugt. Die schrillen Bilder von „Un mio sistema personale“ allerdings lassen sich öffnen, was den Einblick ermöglicht in einen mit äußerster Sorgfalt gefertigten Birnbaumschrank. Die Form des Gesamtobjekts, etwa eine schwer in die Breite gegangene römische I, wird nochmals ironisiert durch eine groteske gefleckte Blende, die rückwärtig an das Ensemble montiert ist; das von hinten betrachtet übrigens vertrauter aussieht – nämlich nach Schrank – als von vorn.

Eines verbindet dieses Ding mit fast allen anderen Dingen in dieser Ausstellung: die Dreiteilung in Sockel, Wand (oder Säulen) und Sims (oder Dach). In diesem Sinn ist Sottsass Architekt geblieben; seine Arbeiten leben von der bornierten Applikation der falschen Form auf den richtigen Gegenstand (oder andersherum). Nicht, daß ihm das nicht aufgefallen wäre: Der „Buddhaturm“ ist ein Kleiderschrank, der durch eine gelbe Bodenplatte die Näherung verbietet und sich oben mit einem kreisrunden schwebenden Golddach schmückt. Theatralischer kann man die Schachtel, die der Schrank nun mal ist, gar nicht in Szene setzen.

Wer diese Ausstellung besucht wie eine Mustermesse, wird einer gewissen Frustration nicht entgegen: „Adesso però“ (Jetzt aber) ist keine Möbelschau, sondern allenfalls ein Kommentar zu einer Möbelschau. Warum, fragt man sich, haben die blöden Fernsehtische das 50er-Jahre-Stigma immer noch nicht abgeworfen; warum endet die Anschaffung eines Schranks in der Alternative zwischen Schleiflackkasten und Bauernmöbeln aus dem Antikladen? Wie ist es zu jenen wulstigen Klötzen gekommen, die in unzähligen Wohnzimmern als „Sitzecke“ firmieren?

Der Katalog zur Ausstellung ist klug gemacht: die Objekte sind in einem schmalen Heft durch vereinfachende Zeichnungen ausgewiesen. Das Heft wird in einem Schuber mit einem roten Buch verkauft. Dieses Buch enthält eine Auswahl von Texten, die Sottsass anläßlich seiner Reisen geschrieben hat, und Fotografien.

So erinnert er sich auf einer Reise durch Amerika im Jahre 1966: „Als ich jung war und zur Untermiete wohnte ohne Ofen, konnte ich nicht heiraten: Man brauchte 200.000 Lire als Abstand, um überhaupt zwei magere Zimmer mit Küche und Bad zu bekommen, und mir blieb nichts anderes übrig, als den ganzen Tag herumzulaufen (...) Ich dachte daran, daß es Leute gab (...), die einen Lichtschalter hatten, den sie betätigen konnten, eine Lampe zum Anknipsen über dem Tisch: Leute, die einen Tisch hatten, eine Uhr, einen Kalender, eine Warmwasserheizung, Bilder, Bücher, Papier, einen Stift, einen Radiergummi, einen Kater, Kissen. Ich sah ein erleuchtetes Zimmer: Im Inneren das Licht, draußen die Dunkelheit und ich sagte: ,Was machen die da drinnen?‘“

Ein vorzüglich gemachter Raum in der Hamburger Ausstellung zeigt einen Zyklus von Fotografien mit kurzen Texten. Eigentlich handelt es sich um Dokumentationen eigener Arbeiten – Interieur und ein bißchen Land-art. Über einem milchigen Tümpel ist ein Gerüst zu sehen, das in seinen Außenmaßen in etwa ein Zimmer abgrenzt. Der Boden ist verstrebt, unter Risiken begehbar. „Es kommt selten vor“, heißt es im kryptischen (englischen) Text, „daß man einen glänzenden Boden entwirft, wie auf Wasser zu gehen.“

Sowohl die Anekdote aus der kargen Studentenzeit als auch die Fotoarbeit zum Tümpel-Käfig zeigt Sottsass als jemanden, der mit seiner Wahrnehmung außen steht, aber nach innen greift. Er geht tatsächlich der Frage nach, „was die da drinnen machen“, also: Wie es dazu kommt, daß die Chiffren des Leiblichen, des Städtischen und des Industriellen Szenarien abgeben, die als Bühne des Privaten funktionieren.

Dem unheimlichen Aspekt dieser Sache nähert sich Sottsass eben nicht mit dem Hochmut jener, die glauben, „Funktionen“ zu verorten, zu vermessen und in Produkte überführen zu können. Bauhaus Ende. Statt dessen vollzieht Sottsass diesen Prozeß nach und registriert dabei, wie die Informationen von „außen“ nach „innen“ fließen – ihre bauliche Struktur, ihre religiöse Geladenheit, ihre Unvereinbarkeiten.

Deshalb ist das Design von Ettore Sottsass hochgradig metaphorisch, ja fast literarisch. Ganz deutlich offenbart sich dieses Verfahren in einer Serie, deren Titel mit „Coming back from ...“ beginnen. So bringt die „Gerade zurück aus Neu-Guinea“ einen mit Regaltürmchen besetzten Schreibtisch, und die „Rückkehr von einem Appartment in West-Berlin“ eine als „Konsole“ beschriebenes Ensemble aus Marmor, das verdächtig nach Einsturz aussieht.

Mit Ausnahme eines Raumes, der einen Einblick in Sottsass' Arbeit für die Industrie gibt (Lampe, Kanne, Sessel, Schreibmaschine), zeigt die Hamburger Ausstellung gewissermaßen „Notizen“, aus reflektierten Erfahrungen montierte „Entwürfe“, die es nur deshalb in Wirklichkeit gibt, weil die italienische Designeravantgarde in Mailand an vorzügliche Werkstätten angeschlossen ist. Wer sich einen Buddhaturm, einen Bett-Tempel oder ein Roboterregal nachbauen lassen will, muß sich an eine internationale Kunstgalerie in Zürich wenden.

Ob man die Arbeit von Ettore Sottsass als Bedrohung wahrnimmt oder als befreiend, ist eine Frage der Zuordnung: Sieht man sie als Verbesserung des Heimischen, sind sie erschreckend; sieht man sie als Zuspitzung von Fragen, öffnen sie einen Raum, der intellektuell von Interesse ist, weil er nicht mehr draußen ist und noch nicht drinnen? Die Möbel sind Repräsentationen „unsichtbarer Städte“ und suggerieren abgründig ein Binnenleben. Das unterscheidet sie von den Möbel-Kisten der Industrie.

Alles, was hybrid ist, ist irgendwie auch monströs, hat einen Hauch von Alp. An der Stirnseite des linken Gangs der Halle ist ein Spiegel gestellt, dessen Marmorsockel den Besucher so stoppt, daß er in der Halle steht wie eine Renaissancefigur, ein(e) Medici: „Looking at yourself like a monument.“

Die Ausstellung ist noch bis 24. Oktober in den Hamburger Deichtorhallen zu sehen.

Öffnungszeiten: Täglich außer Montag 11-18 Uhr, Donnerstag 11-21 Uhr. Der Katalog, im Schuber, kostet 38 DM