Hauptstadtmusik
: Erinnert unbedingt ans Sandmännchen

■ Hat sich wieder mal gelohnt: „Unerhörte Musik“, mit Miniatur-Etat im vierten Jahr. Plus Hauptstadtmusiktelegramm.

Die 43. Berliner Festwochen sind eröffnet. Musikalisch haben sie diesmal so viele Schwerpunkte, daß man davon im Kopf dumm und dusselig werden kann. Es geht um Schumann, Japan, Bach, Nono, Beethoven, Musik & Politik sowie hauptsächlich irgendwie um die Nacht. Womit, wie im Festwochenjournal wortgewandt erklärt wird, „letzte Werke und letzte Dinge“ gemeint sind. Also so ziemlich alles, denkt da der Musikfreund froh, nur Anfängerkram gibt es natürlich nicht und auch das Allerletzte dürfte wohl eigentlich ausgeschlossen sein.

Doch dann liest er weiter und trifft auf so stolze, schöne Sätze wie: „Am Anfang war die Nacht“ oder auch: „Denn alle Lust will Ewigkeit“ oder sogar: „Musik will hier, wie auch anderswo, Grenzen überschreiten“. Ha! ruft da unser Musikfreund, wenn dem so ist, gebongt! Und klappt das Heft zu und geht ganz schnell einfach anderswo in ein Konzert.

Neulich nachts zum Beispiel gab es zum ersten Mal wieder in dieser Saison „Unerhörte Musik“ in der Berliner Kabarett-Anstalt. Kaum, daß alle drin waren, wurden auch dort gleich die Kerzen ausgepustet. Es war dumpf und dunkel wie im Tunnel zur Burg der Abenteuer. Aber dann gab die „Kleine Szene der sächsischen Staatsoper Dresden“ ein erleuchtendes Gastspiel: einen bunten Abend mit Diaprojektionen, Tänzern, Sprechern sowie drei „Szenarien für elektronische Musik“. Das erste Stück, von Georg Katzer, stammt noch aus Vorwendezeiten und erinnert akustisch sowie in Hinsicht auf die Ethik unbedingt an das Sandmännchen. Auch das zweite Stück hat etwas rührend Verstaubtes: zwei Mädels in langen weißen Kleidern (auf die dann wechselnde Batikmuster projiziert werden) führen einen etwas angestrengten Ausdruckstanz vor zum Thema „Elemente & Spuren“, wobei die Musik dazu live und solo auf einer Posaune gespielt sowie verfremdet wird vom Komponisten Conrad Bauer persönlich. Bauer spielte großartig; das Stück würde ohne Titel, Tanz und Dias gewiß gewinnen.

Der Höhepunkt des Abends ereignete sich dann unverhofft mitten im allerjüngsten und allerneuesten Stück, das als Auftragswerk der Sächsischen Staatsoper entstanden ist. Es stammt von Christian Münch, der unter anderem alte Original-Radio-Texte von Sarah Kirsch noch einmal neu besingen und betanzen läßt. Manches daran ist peinlich. Vieles nicht nötig. Doch einiges wirklich wunderwunderschön: „Klopfendes Herz, wie das Haus schwankt“, sagt da traurig und einsam vom Tonband herunter Frau Kirsch. Die Sopranistin vorne an der Rampe nimmt ihr simultan jedes Wort aus dem Munde und wärmt es an mit gelben und goldenen Klängen – hinter ihr aber bricht eine dritte Frau stumm wie vom Blitz getroffen zusammen.

Dafür hat es sich wieder einmal gelohnt. „Unerhörte Musik“ – das ist jene kleine, feine Konzertreihe, die seit nunmehr fast vier Jahren der Neuen Musik neue Hörer gewinnen will. Und zwar mit Erfolg: im Oktober ist das 200. Konzert fällig. Rainer Rubbert, der sich, selbst Komponist, die Sache einst ausgedacht hat und sie seither (mit einem Miniatur-Etat unterstützt vom Kultursenat) organisiert, wünscht sich genau dies: daß Musik, die komponiert wird, auch aufgeführt und gehört wird. Ist das ein zu hohes Ziel? Aber sicher. Das ist pure Utopie. Schließlich müßte man, um das zu erreichen, erst einmal per Zeitmaschine die letzten rund 180 Jahre Musikgeschichte noch einmal aufrollen und gründlich ausmisten.

Es folgt das Hauptstadtmusik- Telegramm: das gute alte Fricsay- RSO heißt seit letzter Woche: „Deutsches Symphonie-Orchester“, worüber man sich, jenseits aller Geschmacksfragen, freuen muß, denn somit sind Finanzen und Autonomie dieses vorzüglichen Orchesters vorderhand sicher.

Das von dem Münchener Industriellen auf dem Gelände der Komischen Oper in der Glinkastraße geplante „Weltopernzentrum“ ist noch nicht durch den Senat. Auch darüber muß man sich vermutlich freuen. Eine „hybrid-minimalistische“ Oper von Michael Nyman (dem Filmkomponisten zu Campions „Piano“) mit dem Titel „The man who mistook his wife for a hat“ (aha, nach Sacks!) fand im Podewil seine deutsche Erstaufführung. Es war, bei meinen Ohren, eine gelungene, vor allem aber eine in der weiblichen Hauptpartie (Anna Clementi) vorzüglich und genau gesungene Aufführung. Als Konkurrenz dazu zeigten die Festwochen Peter Brooks „Man who ...“. Ein Festwochenkonzert fand zur Erinnerung an den von den Nazis ermordeten Pianisten Karl-Robert Kreiten statt. In einem anderen sang, nach der Pause, Mitsuko Shirai die „Winterreise“; viel besser freilich klang es, als vor der Pause Tabea Zimmermann dasselbe Werk auf der Bratsche spielte.

Zur Eröffnung der Festwochen hätte Barenboim Mahler dirigieren sollen (vielleicht war es auch Mahler, wer kann das wissen? Irgendwie klingt bei Barenboim immer alles ziemlich gleich breit.) Jedenfalls ergriff er vorher noch das Wort und sprach ernste Worte an uns liebe Berliner (auch er ist jetzt Berliner!) über die Gefahr, die der deutschen Kultur droht, wenn wir zu geizig sind. Dann stiftete Barenboim seine Abendgage für bedürftige Hauptstadt-Musiker. Hat Masur das je gemacht? Barenboim for President! Eleonore Büning