Jeder siebte ist auf der Flucht

Der Krieg zwischen Aserbaidschan und den Armeniern der Enklave Berg-Karabach hat einen aserbaidschanischen Flüchtlingsstrom verursacht, der die gesamte Region – einschließlich Rußland, Iran und Türkei – destabilisiert.

Goradiz ist noch nicht ganz leer. In dem Grenzstädtchen, das Tag und Nacht von Gefechtslärm beschallt wird, harren immer noch 100 Menschen aus. Sie hoffen, daß die Truppen aus dem armenisch besiedelten Berg-Karabach, die in den letzten Wochen eine aserbaidschanische Ortschaft nach der anderen erobert haben, im letzten Moment doch noch vor dem acht Kilometer schmalen Korridor zum Iran haltmachen werden.

Die anderen 9.900 EinwohnerInnen von Goradiz haben sich längst in den Flüchtlingsstrom eingereiht, der von dem Gebiet zwischen Berg-Karabach und Iran in Richtung Osten führt. Gegangen sind auch die Vereinten Nationen. Die Organisation hielt die Gefahr für Leib und Leben ihrer Mitarbeiter für zu groß.

Die Kolonne auf der Straße längs der iranischen Grenze zieht sich über 60 Kilometer hin. Schwer bepackte Kinder, Frauen und Männer versuchen, in Sicherheit zu kommen. Wagen und Karren sind bis oben mit Möbeln und Teppichen beladen. Dazwischen werden Ziegen und Schafe aus dem umkämpften Gebiet getrieben. Am Wegesrand liegen stinkende Tierkadaver. Alte und Kranke warten darauf, daß irgend jemand sie mitnimmt. Hubschrauber mit Schwerverletzten an Bord knattern über die Flüchtenden hinweg.

Die Städte Fizuli und Dschebrail, wo noch im Frühsommer über 100.000 Menschen lebten, sind jetzt völlig leer. Der militärischen Entschlossenheit aus Berg- Karabach hatte die aserbaidschanische Armee nichts entgegenzusetzen. Nachdem die Städte Ende August von Armeniern eingenommen waren, setzte ein Terror ein, der auch die letzten Einwohner vertrieb.

Viele, die jetzt auf der Straße sind, hatten nur Stunden Zeit, ihre Habseligkeiten zusammenzusuchen, so schnell ging der armenische Vormarsch. Viele waren dabei, als ihre nächsten Angehörigen erschossen wurden. Sie hatten keine Zeit, die Leichen zu bergen. Beim Blick zurück sahen sie ihre brennenden Häuser und Dörfer.

Wohin sie gehen, wissen die meisten nicht. Die Hauptstadt Baku ist heute wie zu den alten Sowjetzeiten geschlossenes Siedlungsgebiet. Nur wer Verwandte hat, darf noch dorthin ziehen. In der Hafenstadt Sumgait am Kaspischen Meer versuchten am Dienstag Flüchtlinge, ein Wohnhaus zu besetzen. Die Polizei schoß in die Menge und tötete mindestens zwei Menschen. Anschließend verhängten die Militärbehörden auch über Sumgait ein Zuzugsverbot.

Diejenigen, die versuchen, in den Iran zu kommen, werden fast immer von Grenzposten zurückgewiesen. Offiziell sind nur 60 Aserbaidschaner als Flüchtlinge in dem Nachbarland angekommen. Die Regierung in Teheran fühlt sich bereits mit den Flüchtlingen aus dem Irak überfordert. In Teheran dürfte jedoch auch die Angst vor einer Verbrüderung zwischen den Flüchtlingen und der aserbaidschanischen Minderheit im eigenen Land eine Rolle spielen. Teheran, das bislang freundschaftliche Beziehungen zu Armenien unterhielt und nach aserbaidschanischer Einschätzung auch Waffen lieferte, forderte am Wochenanfang die Regierung in Jerewan zum Rückzug auf. Andernfalls müsse der Iran in den Konflikt eingreifen. Iranische Soldaten sollen bereits zwei Staudämme in Aserbaidschan gegen einen eventuellen armenischen Vormarsch bewachen. Längs dem Grenzfluß Aras drängen sich iranische Soldaten.

Nach langem Zögern gab Teheran gestern dem verzweifelten aserbaidschanischen Hilfegesuch nach: 10.000 iranische Helfer sollen nach Aserbaidschan geschickt werden, um Unterkünfte für 100.000 Flüchtlinge zu bauen.

Das Einbrechen der kalten Jahreszeit hängt wie ein Damoklesschwert über dem jetzt noch sommerlich heißen transkaukasischen Kriegsgebiet. Schon im April dieses Jahres erfroren zahlreiche Aserbaidschaner auf der Flucht vor armenischen Truppen.

Fünf Jahre nach Beginn des Krieges gleicht das Sieben-Millionen-Einwohner-Land Aserbaidschan einem gigantischen Flüchtlingslager. Knapp 900.000 Menschen befinden sich nach Angaben des Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen (UNHCR) auf der Flucht. Sie kamen aus Armenien (200.000), aus anderen ehemaligen Sowjetrepubliken (50.000), aus Berg-Karabach (250.000) und aus den von armenischen Truppen eroberten Gebieten rund um Berg-Karabach (knapp 400.000). Dorothea Hahn