„Nach den Bränden kam die Wende“

Serie besetzte Häuser (Teil 2): In der Dunckerstraße in Prenzlauer Berg gibt es einen Kiezladen und Zusammenhalt unter den Nachbarn / Auslöser waren die Brände vor zwei Jahren  ■ Von Uwe Rada

Beinahe wäre er zu spät gekommen. In Uniform, aber außer Atem stellt er sein knallgelbes Rad an die Fassade neben dem neuen Kiezladen, klingelt kurz und greift dann zum Megaphon: „Ich hab' euch zu danken“, keucht er und atmet noch einmal durch: „Gestern ist ein Fax gekommen, vom Hauptpostamt Pankow, und da steht es schwarz auf weiß. Unser Postamt wird nicht geschlossen!“ Beifall unterbricht seinen Redefluß. Mit einer Handbewegung schafft er sich erneut Gehör: „Mehr noch. Nach Auswertung der Statistik hat man sogar beschlossen, einen Paketschalter einzurichten.“ Der Postbote verweist noch auf die neueste Ausgabe der Kiezzeitung prenzlig und senkt das Megaphon. Er hat alles gesagt, und jeder im Kiez weiß, worum es geht: Neben einem weiteren am Kollwitzplatz sollte in Prenzlauer Berg auch das kleine Postamt in der Senefelder Straße unweit des Helmholtzplatzes geschlossen werden. Doch die Entscheidung von oben stieß auf den Protest von unten. Anderthalb Jahre lang wurden im Kiez Besuche beim Postamt organisiert, verteilte die Oma von nebenan mit dem Besetzer aus der Dunckerstraße Flugblätter, schrieb man Briefe an die Oberpostdirektion. Am Kollwitzplatz ohne, in der Senefelder Straße nun mit Erfolg.

Der Postbote hat sich inzwischen in die zweite Reihe zurückgezogen. Mittlerweile sind andere Redner am Megaphon. Es wird viel über den Zusammenhalt gesprochen auf diesem Straßenfest am vergangenen Sonntag. Dann wird das lila Band durchschnitten. Der Kiezladen im besetzten Haus Dunckerstraße 14 ist eröffnet.

Das Straßenfest begann zwei Stunden vorher. Es ist das nunmehr dritte in der Dunckerstraße, und gekommen sind sie alle: Alkis und Alternative, Autonome und Abgeordnete. Es ist, als würde von dieser grauen Straße mit ihrer leicht hügeligen Flucht eine seltsame Anziehungskraft ausgehen. Nachdem rund um den Kollwitzplatz unzählige Cafés und Kneipen und mit ihnen viele Touristen Einzug gehalten haben, ist der Kiez um den Helmholtzplatz, sind die Lychener-, Schliemann- und Dunckerstraße für viele im Kiez die letzte intakte Ecke des ursprünglichen Prenzlauer Bergs. 150.000 Einwohner leben in diesem Bezirk, der nicht nur als „größtes Sanierungsgebiet“ Europas gilt, sondern bereits zu DDR-Zeiten als Eldorado für stille Wohnungsbesetzer gehandelt wurde. Nach der Wende im Dezember 1989 wurde in der Schönhauser Allee 20/21 dann das erste Haus komplett besetzt. Binnen kürzester Zeit waren in Prenzlauer Berg nahezu 50 Häuser in den Händen der BesetzerInnen. Im Gegensatz zu Friedrichshain, wo sich vor allem Westberliner und Westdeutsche niedergelassen haben, herrschte in Prenzlauer Berg von Anfang an eine andere politische Kultur. So ist es der unermüdlichen Arbeit des Prenzelberger Besetzerrats zu verdanken, daß unter Vermittlung des „Runden Tisches Hausbesetzungen“ noch vor den Bezirken Mitte und Friedrichshain im Frühjahr 1991 Einzelmietverträge für die meisten Häuser abgeschlossen werden konnten. Seither sind auch die Häuser in der Dunckerstraße 14 bis 16 legalisiert. „Als ganz normale Mieter haben wir jetzt die gleichen Probleme wie die Nachbarn“, sagt ein Besetzer mit blonden Dreadlocks, der das Straßenfest zwar ein bißchen bieder, aber sonst „ganz korrekt“ findet.

Nun ist Friedel Grimm an der Reihe. Seit nunmehr 44 Jahren, spricht die Rentnerin mit zittriger Stimme ins Megaphon, wohne sie in der Senefelder Straße. Als der Privateigentümer begann, das Hinterhaus zu entmieten, sagt sie, „sind wir rebellisch geworden und haben uns an die Leute in der Dunckerstraße gewandt“. Der Kiezladen ist für Friedel Grimm eine wichtige Anlaufstelle, „damit noch mehr Menschen im Kiez sich einig werden“. „Wenn wir nicht nur den Problemen in einzelnen Häusern hinterherrennen wollen“, ergänzt Gerhard Weber, „wenn es tatsächlich einen Widerstand von unten geben soll, dann müssen wir offen sein für alle, gleich ob Besetzer, Mieter, Pfarrer, Gewerbetreibender oder Polizist.“

Der ehemalige Pfarrer wohnt mit seiner Basiskommune in der Dunckerstraße 14 und engagiert sich vor allem im Gewerbetreibenden-Verein „Zusammenhalt“. „Feindbilder brauchen wir hier nicht“, sagt er, „im Gegenteil: wir müssen die Schwellenangst abbauen, die viele immer noch davon abhält, mit anderen zusammen aktiv zu werden.“ Gerhard Webers Vorstellung ist nicht aus der Luft gegriffen. Solidarität, diese oft beschworene und gleichermaßen abgedroschene Floskel ist in der Dunckerstraße eine konkrete Erfahrung. Und das seit nunmehr zwei Jahren.

Damals wurde die Dunckerstraße schlagartig bekannt in Berlin. Es brannte. Am 12. Juli 1991 zum ersten Mal. Der Dachstuhl der Dunckerstraße 15 stand in Flammen. 34 Wohnungen wurden vom Feuer und Löschwasser vernichtet, vier Gebäudeteile gesperrt. Daß es sich um Brandstiftung handelte, bestätigte auch die Polizei. „Die Frage, die nun alle beschäftigte“, sagt Jens Oliva, ebenfalls Bewohner der Dunckerstraße 14 und Mitglied der Betroffenenvertretung Helmholtzplatz, „war nur, wer daran ein Interesse haben könnte: selbsternannte Saubermänner oder Immobilienhaie?“ Oliva erinnert sich freilich auch, daß es damals Leute im Kiez gab, „die gesagt haben, die Besetzer zünden sich das eigene Dach überm Kopf an“.

Kurz vor dem Brand war in der Boulevard-Postille Super! eine Serie mit dem Titel „Die Kinder vom Alex“ erschienen, in der den BesetzerInnen der Dunckerstraße Diebstähle und Prostitution vorgeworfen wurde. Der weitere Umstand, daß am Tag vor dem Brand ausgerechnet jene Gebäudeteile von der Wohnungsbaugesellschaft baupolizeilich gesperrt wurden, in denen später das Feuer ausbrach, beflügelte schließlich die Phantasie des damaligen Sprechers des Besetzerrats, Wolfram Kempe. Der hat in einem Kriminalroman mit dem bündigen Titel „Feuer“ seinen Gedanken und seinem Helden freien Lauf gelassen. Das Ergebnis: Die Spur führte mitten ins Herz der Berliner Immobilienmafia. Ganz so sicher ist sich Jens Oliva freilich nicht. „Bis heute weiß man nicht“, sagt er, „wer das Feuer tatsächlich gelegt hat. Tatsache ist nur, daß es zwei Wochen später erneut brannte.“

Diesmal brach das Feuer im Quergebäude der Dunckerstraße 14 aus, direkt über der Wohnung von Gerhard Weber und Jens Oliva. „Das waren gespenstische Szenen.“ Doch diesmal waren die Reaktionen im Kiez andere: „Ein Bewohner ist auf der Straße völlig durchgedreht, da haben die Leute dann gemerkt, daß es Blödsinn ist zu denken, die Besetzer wär'n das selber.“ Für Gerhard Weber schlug in dieser Nacht die Stimmung um: „Viele Nachbarn haben uns nicht nur praktisch mit Schlafmöglichkeiten geholfen, sondern auch öffentlich gesagt, da steckt doch mehr dahinter, da stimmt doch was nicht.“ Aus der plötzlichen Gewißheit, daß es im Grunde jedes Haus treffen könne, entschied man sich in der Dunckerstraße für eine Kiezversammlung.

Von der wird noch heute geschwärmt: „Die Versammlung in der Elias-Kirche“, ist eine Besetzerin überzeugt, „war für uns der endgültige Wendepunkt.“ 200 AnwohnerInnen waren gekommen, und die Besetzer staunten nicht schlecht, als die Nachbarn formulierten, was sie sich zu sagen eigentlich vorgenommen hatten: „Wir dürfen uns nicht auseinanderbringen lassen“, hieß es und daß es nicht um den Gegensatz zwischen Besetzern und Bewohnern gehe, sondern um die, die beide zusammen vertreiben wollten. „Nun begann die Zeit“, so Gerhard Weber, „in der das eine aus dem andern erwuchs.“ Auf der Kiezversammlung bildete sich eine Gruppe, die das erste Dunckerstraßenfest vorbereitete. Das Straßenfestplenum entschloß sich nach dem Fest am 28. September 1991, eine Kiezzeitung, die prenzlig, zu gründen. Die wiederum wurde zum ersten Mal auf jener Mieterversammlung in der Elias-Kirche verteilt, in deren Anschluß der Gewerbetreibendenverein „Zusammenhalt e.V.“ gegründet wurde. Mit dabei war die Dunckerstraße auch bei Aktionen gegen die Mieterhöhungen, beim Kiezbündnis „Wir bleiben alle“ und bei der Vorbereitung der beiden großen Mietendemonstrationen im vergangenen Jahr, bei denen jeweils 10.000 MieterInnen gegen die Mietenpolitik auf die Straßen gingen.

Im Laden ist es still. An den Wänden keine Plakate, sondern Fotos. Beinahe schick sieht es aus, nur das helle Holz der Inneneinrichtung verbreitet einen Hauch von Alternativem. Am 1. Oktober wird die offene Mieterberatung Prenzlauer Berg einziehen. Bereits jetzt nutzt den Laden, für dessen Miete das Bezirksamt aufkommt, die Betroffenenvertretung des Sanierungsgebiets Helmholtzplatz. Gerhard Weber weiß, daß es auch Besetzer gibt, die „solchen Dingen skeptisch gegenüberstehen“. Ihm ist es freilich wichtig, einen Raum zu schaffen, den man ohne Schwellenangst betreten könne. Schließlich sei die Zeit der „großen Ereignisse“ mit den beiden Mietendemonstrationen vorerst vorbei. „Seither“, weiß er, „gibt es eher einen Prozeß nach unten, in den Kiez, in aktive Nachbarschaftshilfe.“ Wer am Dienstag abend zum offenen Treffen in den Laden komme, sagt auch Jens Oliva, dem werde sofort geholfen: „Da wird nicht groß rumdiskutiert, sondern abgemacht, wer am nächsten Tag mit zur Wohnungsbaugesellschaft geht oder an den Privateigentümer einen Brief schreibt.“ Die konkreten Rechtsfragen seien zwar „Sache der Mieterberatung“, sagt Weber, „doch wer sich in seinem Haus entschließt, mehr zu unternehmen, der ist dienstags bei uns richtig“. Von der offiziellen Festlegung zum Sanierungsgebiet verspricht man sich in der Dunckerstraße allerdings nicht weniger. „Da wird zwar ein bißchen verkehrsberuhigt und die eine oder andere Kita gebaut“, sagt Jens Oliva, „aber die Probleme mit den Eigentümern bleiben.“ Oliva weiß, wovon er spricht: Die Dunckerstraße 16 ist bereits seit längerem in Privatbesitz, und auch für die Nummern 14 und 15 gibt es Rückübertragungsansprüche. „So sehr die Brände im Kiez hier etwas bewirkt haben“, fürchtet er, „so schnell können sie uns wieder einholen.“ Der Grund: Etwa die Hälfte aller Wohnungen seien nach wie vor baupolizeilich gesperrt. „Wenn da ein Eigentümer kommt, wird er wohl versuchen aufzuräumen“, sagt Oliva und ergänzt etwas optimistischer: „Es kann aber auch sein, daß wir in Immobilienkreisen inzwischen als unrentables Objekt gehandelt werden.“ Bis dato jedenfalls hat sich für die Dunckerstraße 15, die kürzlich für 2,4 Millionen Mark zum Verkauf stand, kein Käufer gefunden. „Und wenn“, verspricht Oliva, „dann kommt hier noch viel mehr Bewegung ins Spiel.“

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