Zwischen den Rillen
: Popsongs nach verlorener Unschuld

■ Hamburgs Underground gibt keine Ruhe – der 93er Jahrgang des schlauen Pop: Milch und Motion.

Um keine vorgetäuschte Steifheit verlegen, die man in Popcoolheit mutieren lassen kann: Das ist beziehungsweise das sind Milch. Elegant wie Wäscheständer die Texte von Armin von Milch, nichts ist „einfach so“ gesungen. Denn es geht um Künstlichkeit: künstliche Künstlichkeit, bis es nervt. Unmittelbarkeit, das lehrt uns dieses Singen, ist vorbei: Man kann nicht einfach über Liebe, Leid und Gänseblümchen singen, gejagt durch Filter, Geheimcodes und Altbekannt-Verinnerlichtes aus dem Reich des Pop. Manchmal geht das gut, und man erhält über viele kleine Umwege etwas zurück, was diesen Spießrutenlauf durch die Geschichte der verlorenen Unschuld des Popsongs überlebt hat: „Wenn meine Beine nicht so wollen, wie sie sollen, bleib ich hier... Ich und du, ich und du, du und ich, wir sind Fifty Fifty“ („50/50“). Das ist doch schön, oder? Schön? Um die Schwierigkeiten des Einfachen wissend, heißt das hier ganz einfach: blöd. Auch gibt es ein Stück namens „Gott ist doof“ – wo doch gerade Milch als Popslogan-Surfer wissen müßten, daß Wendungen mit „Gott ist...“ oder „...ist Gott“ nicht erlaubt sind. In „Housefrau“ geht es auch schief: „Jeder Kackerjunge gibt gern Gas und kriegt die Kurve, auf'm Spültisch und auf ihr...“ Voll subversiv soll hier die Sexismus-Debatte durch Witzigkeit, wie aus der Titanic-Schublade, torpediert werden: ein paar müde Pointen gelandet? Was haben wir gelacht.

Aber man vergißt all das bemühte dandyeske Gurren, Hauchen und Zieren des Gesangs, wenn man die zehn Stücke einfach mehrmals hat laufen lassen: wunderbar klopfend, niedlich fiepsend und böse brutzelnd schwirrt es einem um den Kopf. Milch haben mit ihrer dritten Platte vollends auf Synthiepop/ House umgesattelt. Voller Erfolg. Aufmerksam hat man New Yorker und Detroiter House- Produktionen aufgesogen. Selten unsteif die Beats, munter lospluckernd: „Wessiesau“ (auch das wieder wie aus der Titanic- Redaktion) ist uplifting und pumpend und kann dabei mithalten mit der englischen Pop/House- Schule Marke 808-State oder Shamen. Höhepunkt: das letzte Stück „Journal“ – funky schnippt der Sequenzer, und die Gitarrensamples gleiten geschmeidig über den straighten Deephouse- Groove. Erwähnt sei auch das schöne Cover: Da hat doch jemand „500“ auf ein Markstück gestanzt – Geldentwertung zu eigenen Bedingungen; bitte in Umlauf bringen!

„Und dann fällt dir wieder ein – wie das war / als du immer nur gedacht hast / Wie schön die Welt in den Augen von Marlies ist / Wie schön doch das Leben in Deutschland ist / Ausgerechnet dich hat das Leben aus der Bahn geworfen / Immer wieder das Privatleben / Das dumme dumme Ding, das man Privatleben nennt/ Oh, wenn man es doch abschaffen könnte...“ Das ist zwar kein Text von Motion, sondern einer von Freiwillige Selbstkontrolle („Was kostet die Welt“), aber er drückt genau aus, worum es hier geht: im ganzen klebrigen, wirr durchs Konzept brechenden Alltagsmüll mit den Füßen scharren. Motion haben das Stück gecovert und gut daran getan. Wie ein zentrales Statement verdeutlicht es die unterschwellige Stimmung dieser Platte: ein ins Private hineingiftendes Unbehagen, ein privater Pessimismus in den Neunzigern, den man nicht öffentlich zum Kulturpessimismus regenerieren lassen will, gegen den man ankämpft, weil man es den Feinden nicht zu leicht machen will. Deshalb wirkt die ungestüm voranpreschende Funkyness, mit stotternd fiependen Orgeleinsätzen und funkelnden Gitarren-Shackalacks wie der musikgewordene, trotzige Widerspruch gegen die Sorte Pessimismus, die sich die Gewinner-Seite leistet. Lange haben sie es zu verbergen versucht: Motion ist ein Kind Hamburger Götter – die meisten Stücke haben Rocko Schamoni und Schorsch Kamerun, Sänger der Goldenen Zitronen, gemeinsam gemacht (am Schlagzeug sitzt Ex- Zitrone Ale Sexfeind). Auf Pressefotos haben sie zwar angeklebte Bärte, aber der Witz-Overkill ist in weiter Ferne. Hier blickt man unerschrocken in die traurige Wirklichkeit, ohne darin das „Echte“ erkennen zu wollen. Dabei geht es nicht um ein am Ende korrumpiertes Anschmiegen ans Kleine und Private. Aber man macht sich trotzdem die Mühe, es zu beschreiben: „Er sitzt dort jede Nacht von 11 bis tags um 2 / Schluckt vor sich hin / meist redet er kein Wort! / Es muß ein sonderbares Schweigen sein / wenn sonst niemand in der Kneipe ist / Sogar der Wirt schaut peinlich fort (aus dem Titel „Fick“).

Währenddessen schläft IBM Citystar zu einem uptempo Beat- Song mit in der Popgeschichte als zartmelancholisch eingeführten Harmonien „unterm Funkturm“, um dann im Refrain zu folgender Einsicht zu kommen: „Etwas veränderte mein Leben.“ Die einfachen Feststellungen strahlen in manchen Lebenslagen eine blanke, gleißende Schönheit aus. „Etwas veränderte mein Leben.“ Das muß ich mir merken. Jörg Heiser

Milch – 500 (L'Age D'OR/EWM)

Motion – Ex-Leben Land/ What's So Funny About / Indigo