piwik no script img

Panik- und Mythenmusiktheater

Eine Werk-Retrospektive des griechischen Komponisten Jani Christou in Hamburg  ■ Von Frank Hilberg

Wenn ein Komponist vom Musikbetrieb ignoriert und dann vergessen wird, ist das durchaus günstig, zumindest für Veranstalter, denn so kann ihnen immer mal wieder ein Fund gelingen. Als findig hat sich die Dramaturgie des Musikfestes Hamburg mit der Ausrichtung einer Retrospektive des 1970 bei einem Autounfall ums Leben gekommenen griechischen Komponisten Jani Christou erwiesen. Zehn Aufführungen gaben ein deutliches Panorama des Stils und der kompositorischen Entwicklung von Christou, zeigten aber zugleich was ihn zum Außenseiter prädestinierte. Der erste und wichtigste Grund ist, daß er gegen die Praxis des Musikbetriebs komponierte. Wie zum Beispiel in dem Orchesterstück „Enantiodromia“ (1968).

Die ersten Klänge wehen von weit her. Aus der Stille tritt das Sirren eines hohen Geigentons hervor. Allmählich gesellen sich weitere Streicher hinzu und überlagern sich zu einem anschwellenden Flirren. Lauter und lauter wälzt die Klanglawine heran, mächtig dröhnt das Blech, kreischt das Holz, schreien die Streicher – doch kurz bevor sich die Woge überschlägt um alles mit sich zu reißen, bricht der Klang unvermittelt ab (so eine Vollbremsung ist wohl nur in der Musik möglich). Eine fein sirrende Geige ist übriggeblieben. Abermals baut sich die Spannung auf, schwillt der Klang an und droht zu bersten. Doch diesmal schlägt die geballte Energie durch, die Musiker schreien, trampeln, springen auf und drohen mit Prügeleien. Die musikalische Praxis ist in „Metapraxis“ umgeschlagen. Christous Intention war es, nicht nur die Hörer, sondern auch die Interpreten zu überwältigen. Doch ein Kompositionskonzept, daß von angestellten oder beamteten Musikern mehr als Routine, nämlich emphatische Beteiligung verlangt, ist schon auf halbem Wege, sich selbst zu disqualifizieren. Dabei ist der Hauptpunkt gar nicht, daß sich die Musiker sträuben würden – im Gegenteil, der Eifer der Ausführenden hatte einen guten Eindruck der Intention vermitteln können –, doch müßten die theatralischen Mittel gesondert geprobt werden und zwar nicht unter Aufsicht des Dirigenten, sondern eines Regisseurs, selbst wenn keine eigentliche Schauspielerei, sondern „natürliches“ Verhalten gefordert ist. Denn nichts ist dem Laien schwieriger als auf der Bühne einen Laien darzustellen.

In den 60er Jahren gab es zwar unter dem Schlagwort „instrumentales Musiktheater“ eine Vielzahl von Stücken, die agierende Musiker verlangten, und so hätte sich eine Aufführungspraxis herausbilden können. Doch bezeichnenderweise waren diese für kleine Ensembles geschrieben und wurden tatsächlich nur von spezialisierten Trüppchen aufgeführt. Die Kritiker und Neue Musik-Fans hatten sich schnell an grimassierende Instrumentalisten gewöhnt, zumal gerade Kagels Stücke eher auf Witzchen und Pointen zielten als ernst mit einer Veränderung von Lebenspraxis zu machen.

Christou hatte eine Vision und die ist wohl der zweite Grund für seine Vergessenheit. An dieser Stelle ist ein wenig Biographie hilfreich: 1926 geboren, wuchs Jani Christou in dem bei Kairo gelegenen Heliopolis unter dem Einfluß der Mutter, die ein Faible für Alchemie und Okkultismus hatte, auf. Nach dem Ende des zweiten Weltkriegs reiste er nach Cambridge, um bei Wittgenstein und Russell Philosophie zu studieren. Dort erlernte er auch das Zwölftonhandwerk bei Hans Ferdinand Redlich, einem Schüler Alban Bergs. Später fuhr er zu C. G. Jung nach Zürich, dessen Tiefenpsychologie ihn stark beeindruckte. Diese Einflüsse haben bei Christou zu einer merkwürdigen Mischung aus Mythologie, Alchemie, Tiefenpsychologie, Sprachphilosophie und Logik geführt, die gerade seine späteren Werke prägt. Den rationalisierenden, antimetaphysisch eingestellten und politisch entfesselten Zeitgenossen muß sie äußert suspekt gewesen sein.

Analog zur griechischen Tragödie, wo die Urängste der Menschen, die Furcht vor der Nacht, die Schrecken der Naturgewalten, die Todesfurcht mit den Mitteln des Mythos und Logos gebannt wurde, hat Christou ein musikalisch-theatralisches Modell entwickelt. Durch die Erregung von Panik versucht er zur Katharsis, zur Überwindung der Urängste durch Durchleben zu gelangen. Die Wahl seiner Stoffe und Motive ist dabei höchst heterogen. Zum Beispiel steht in „Anaparastasis I: astron...“ (1968) der Monolog des Wächters aus Aischylos Orestie neben der Gebrauchsanweisung zur Handlungsweise im Falle eines Schiffbruchs. Die schwüle Atmosphäre einer heraufziehenden Katastrophe – die sich in einem Tumult auf der Bühne entlädt – ist nicht allein durch die Texte erzeugt, sondern auch durch den mit den Augen kreisenden Sänger. Der Bariton Gustav Hehring hat das in der Aufführung mit dem Ensemble „das neue Werk“ sehr gut gelöst und mit seiner kraftvollen Stimme dem griechischen Text den Klang schauervoller Beschwörung verliehen. Und doch hat auch ihn das Problem der Aufführung eingeholt, denn wenn er zwischendurch in die Noten linst, ist gleich die ganze Spannung zum Teufel und wir sitzen wieder im Konzertsaal und schauen einem Interpreten beim Interpretieren zu. Solche Kleinigkeiten, die keine sind, waren es wohl, die einen Mitarbeiter von Christou bemerken ließen, daß die meisten Aufführungen, die dieser nicht selber geleitet hat, wie ein „Adler, der nicht fliegen kann“ wären.

Den größten Effekt kann die Musik noch beim unvorbereiteten Publikum haben. Das Stück „Praxis“ (1966) für Streicher und Klavier - dargeboten vom Philharmonischen Staatsorchester Hamburg unter der Leitung von Horst Göbel, der auch den Solistenpart übernahm – beginnt mit einem Hornissenschwarm von Pizzikatos, der sich unter den Streichern ausbreitet und durch Klopfgeräusche noch angestachelt wird. Plötzlich startet der Dirigent einen Kontrollgang, läuft durch die Pultreihen der Musiker, schaut in die Noten, räumt dann auf der Bühne rum, trollt sich zum Klavier, das er zunächst bestaunt, dann traktiert. Auch die Musiker verlassen nun ihre Plätze, wandeln spielend übers Podium, geraten ins Rufen (das sich sehr gut in das Klangfarbengewebe mischt: bestens instrumentiert!), geraten in Streit, umkreisen das Klavier und beobachten neugierig die merkwürdigen Aktivitäten des Pianisten.

Sonntagmorgens, zwischen Schönbergs dunkelbunter zweiten Kammersymphonie und Brahmsens erster Serenade eingeklemmt, wurde das Stück als Abonnementsmatinee einer ergrauten Hörerschaft dargeboten. Die haben reagiert! Kaum war es beendet, kaum war der Applaus samt Buhs und Bravos vorbei, kaum sprangen die Saaltüren auf, als sich eine ungeheure Woge der gedämpften Erregung, ein Geschnatter aus tausend Mündern erhob. Da lag plötzlich so ein Schwirren in der Luft...

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen