Das „Jahr der Frau“ und die Zeit danach

Feministische Politik in der Ära Clinton: Der „Backlash“ der Reagan-Ära ist zwar gebannt, doch auch Clintons Frauenpolitik läßt zu wünschen übrig / Auf die anfängliche Euphorie folgte längst Ernüchterung  ■ Aus Washington Andrea Böhm

1992 war das Jahr der Frau in den USA. Sagen manche. Vor allem Männer. Aus 30 wurden nach der Wahl im letzten November 54 weibliche Abgeordnete, aus der First Lady wurde die First Feminist Lady, und ausgerechnet Kalifornien, die Heimat Ronald Reagans, ließ sich zum ersten Mal in der Geschichte der USA durch zwei Senatorinnen in Washington vertreten. Noch nie zuvor wurden Frauen als Wählergruppe so hofiert. Noch nie hatte es ein Präsidentschaftskandidat gewagt, der Öffentlichkeit das Konzept des Job-sharings mit seiner Gattin vorzuschlagen. Noch nie hatten Themen wie Abtreibung oder Diskriminierung am Arbeitsplatz eine solch große Rolle im Wahlkampf gespielt.

1993, das Jahr danach, begann denn auch wie im Märchen. Zwar hatte die christliche Rechte erneut über 70.000 AbtreibungsgegnerInnen zu einer Demonstration vor dem Weißen Haus mobilisiert. Doch galt es aus Sicht der „Lebensschützer“ nicht mehr, den Präsidenten zu feiern, sondern ihn zu bekämpfen. Denn drinnen beseitigte Bill Clinton gerade mit ein paar Federstrichen frauenfeindliche Erbstücke der Reagan-Bush- Ära: den Reaganschen „Knebelerlaß“, der es MitarbeiterInnen staatlich finanzierter Kliniken und Familienberatungsstellen untersagte, Patientinnen über die Möglichkeit eines Schwangerschaftsabbruchs zu informieren; das Verbot von Abtreibungen in US-Militärhospitälern; sowie den US-Finanzboykott gegen all jene internationalen Institutionen, die über Abtreibung informieren oder sie durchführen.

Auf die Euphorie folgte die Ernüchterung – ein Vorgang, der ebenso zwangsläufig wie politisch heilsam ist, weil er den Blick auf die realen Machtverhältnisse wieder freigibt. Wieder ging es um das Recht auf Abtreibung. Doch dieses Mal wurden nicht die Möglichkeiten des Machtwechsels, sondern dessen Grenzen deutlich: Am 30. Juni beschloß das US-Repräsentantenhaus mit überraschend deutlicher Mehrheit, daß Schwangerschaftsabbrüche bei mittellosen Frauen nicht durch die staatliche Krankenversicherung für Mittellose, genannt „Medicaid“, finanziert werden dürfen. Im Klartext: Arme Frauen, darunter überproportional viele Schwarze und Latinas, können einen Schangerschaftsabbruch oft nicht mehr finanzieren. Diese Diskriminierung ist nicht neu, sondern im Rahmen eines Haushaltszusatzes, des sogenannten Hyde Amendments, seit sechzehn Jahren Praxis. Doch sollte im Herbst auch der Senat der Vorlage zustimmen, ist aus dem Haushaltszusatz ein Gesetz geworden, das der Präsident nicht mehr aus der Welt schaffen kann. Dann stünde Bill Clinton vor dem Dilemma, entweder ein Veto einzulegen oder ein Gesetz unterzeichnen zu müssen, dessen Inhalt er im Wahlkampf noch vehement kritisierte. Ob am Ende Clintons Prinzipientreue oder seine Konfliktscheu den Ausschlag geben wird, muß sich zeigen. Die Demoskopen vermelden jedenfalls, daß die Mehrheit der US-AmerikanerInnen zwar das Recht der Frau auf einen Schwangerschaftsabbruch befürwortet, jede staatliche Finanzierung von Abtreibungen jedoch ablehnt.

Diese Schlappe im Repräsentantenhaus demonstrierte einmal mehr die normative Kraft des Numerischen: Von den 535 Kongreßmitgliedern sind eben immer noch 481 männlichen Geschlechts – wobei im Eizelfall auch die Geschlechtszugehörigkeit noch nichts über das Abstimmungsverhalten aussagt: Von den 47 weiblichen Abgeordneten im Repräsentantenhaus stimmten elf für den Gesetzentwurf, darunter einige, die im Wahlkampf tatkräftig von feministischen Organisationen unterstützt worden waren.

„Laßt uns über eines im klaren sein: Dies war nicht das Jahr der Frau“, schrieb Gloria Steinem, eine der bekanntesten US-Feministinnen und Mitherausgeberin des Ms Magazine, noch bevor Clinton zwischen Pomp und Parade seinen Amtseid abgelegt hatte. „Das kommt erst, wenn wir die Hälfte der Mitglieder im Kongreß und allen anderen Entscheidungsgremien stellen, ab und an eine Präsidentin wählen, Väter haben, die sich genauso für Kindererziehung zuständig fühlen wie Mütter, und vieles mehr.“

Business as usual also? Keineswegs. „Dies“, konstatiert Steinem, „war das Jahr, in dem uns der feministische Kraftakt, das Leben von Frauen besser im Wahlprozeß zu repräsentieren, einen Riesenschritt vorangebracht hat.“ Das heißt: Die Ära des Backlash für Millionen amerikanischer Frauen während der Reagan-Bush-Ära, wie ihn die US-Journalistin Susan Faludi in ihrem Buch „Die Männer schlagen zurück“ beschrieben hat, ist vorbei. Die Frage lautet, ob und wie schnell diese Entwicklung wieder umzukehren ist.

Denn bei allen Schlagzeilen, die die Abtreibungsdebatte in den USA macht, wird leicht übersehen, daß zwölf Jahre republikanischer Regierung Millionen von AmerikanerInnen vor allem im sozialen und ökonomischen Bereich zugesetzt haben. Um die exorbitanten Ausgaben im Rüstungssektor zu finanzieren, setzten Reagan und Bush immer wieder den Rotstift im Sozial- und Bildungshaushalt an. Die Folgen für die soziale Infrastruktur waren verheerend: Öffentliche Schulen wurden finanziell ausgedünnt, Bibliotheken, Schwimmbäder, Freizeitheime, Drogenberatungsstellen geschlossen, die Kinderbetreuung wurde zum gesellschaftlichen Krisenfall.

Besonders hart betroffen: Frauen – zumal die Zahl alleinerziehender Mütter beständig steigt. Unter afroamerikanischen Familien beträgt ihr Anteil mittlerweile 58 Prozent (1980 waren es noch 45 Prozent), unter weißen Familien inzwischen fast 20 Prozent (1980: 13 Prozent).

Zwölf Jahre republikanischer Administration haben auch ArbeitnehmerInnen und Gewerkschaften schwere Rückschläge versetzt: Das Durchschnittseinkommen pro Haushalt sank allein in den Jahren zwischen 1989 und 1991 um 5,1 Prozent auf 30.126 Dollar. Was für deutsche Arbeitnehmer noch unvorstellbar scheint, ist für die Mehrheit der Amerikaner Realität: Sie arbeiten heute mehr für weniger Lohn als vor zehn Jahren. Im Kampf um in- und ausländische Investoren und in Konkurrenz gegen Länder wie Mexiko sind die USA in weiten Regionen zum Billiglohnland geworden.

Besonders hart betroffen: Frauen. Zumal sie mit zwei Dritteln nach wie vor die Mehrheit jener ArbeitnehmerInnen stellen, die sich mit dem gesetzlichen Mindestlohn von 4,35 Dollar pro Stunde zufriedengeben müssen.

Dreißig Jahre nach Verabschiedung des „Equal Pay Act“, der theoretisch gleichen Lohn für gleiche Arbeit garantiert, zieht Judith Lichtman, Präsidentin des „Women's Legal Defense Fund“, ein verbittertes Resümee: Weiße Frauen erhalten 70 Cent, Afroamerikanerinnen 62 Cent und Latinas 54 Cent in Relation zu jedem Dollar, den ein Mann verdient. Auch ein Blick in einzelne Berufsbranchen fördert ernüchternde Ergebnisse zutage: Krankenschwestern verdienen in den USA zehn Prozent weniger als Krankenpfleger; Grundschullehrerinnen müssen sich im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen mit vierzehn Prozent weniger Gehalt bescheiden; Männer in Managerjobs tragen über dreißig Prozent mehr Geld nach Hause als Frauen in gleichen Positionen. Ebenso altbekannt wie gängig ist die krasse Unterbezahlung in „typisch weiblichen“ Tätigkeiten: Eine Kindergärtnerin verdient in den USA bei einem durchschnittlichen Stundenlohn von sechs Dollar rund 10.500 Dollar im Jahr. Das reicht kaum aus, um den Kopf oberhalb der Armutsgrenze zu halten. Sollte die Kindergärtnerin aus Phoenix, Philadelphia oder St. Paul ihre Kinder allein großziehen, stehen ihre Chancen schlecht, vom Vater je einen Cent zu sehen. 63 Prozent aller alleinerziehenden Mütter erhalten laut Angaben des „US Census Bureau“, einer Mischung aus Volkzählungsbehörde und statistischem Bundesamt, überhaupt keine Alimente. Men's Liberation heißt dieser Trend in den USA.

Allein aus diesem kleinen Crashkurs durch den Alltag amerikanischer Frauen läßt sich schnell eine umfangreiche frauenpolitische Tagesordnung für Administration und Kongreß schmieden – angefangen bei schärferen Gesetzen gegen sexuelle Gewalt über eine frauenfreundlichere Steuer-und Arbeitsmarktpolitik bis zur Bekämpfung der Armut in den USA. Geht es an die Umsetzung dieser Tagesordnung, steckt der Teufel oft im Detail. Manchmal ist er auch auf den ersten Blick zu erkennen.

Ellen Bravo hat ein Auge für beides. Die Vorsitzende der Arbeitnehmerinnenorganisation „Nine to Five“ beurteilt die ersten sieben Monate Amtszeit des neuen Präsidentenpaares mit einer Mischung aus nüchternem Pragmatismus und Wohlwollen für gute Absichten. Neben Korrekturen im Abtreibungsrecht und einem Haushaltsbudget, das einkommensschwachen Familien, darunter vielen alleinerziehenden Müttern, Steuererleichterungen einräumt, hält sie Bill Clinton zugute, daß er endlich den „Medical and Family Leave Act“ unterzeichnet hat – ein Gesetz, zu dem sein Vorgänger zweimal die Unterschrift verweigert hatte. ArbeitnehmerInnen, die sich zu Hause um ein neugeborenes Baby, kranke Kinder oder andere Familienmitglieder kümmern müssen oder selbst krank sind, haben erstmals gesetzlichen Anspruch auf zwölf Wochen unbezahlten Urlaub im Jahr. Für die Hälfte der arbeitenden Frauen bedeutet es jedoch gar nichts. „Die“, sagt Ellen Bravo, „arbeiten in kleinen Betrieben mit weniger als 50 Angestellten, für die der ,Medical and Family Leave Act‘ nicht gilt.“

Für die andere Hälfte liegt die Betonung nicht auf dem Wort Urlaub, sondern auf dem Wort unbezahlt. Die bereits erwähnte Kindergärtnerin mit einem Jahresgehalt von 10.500 Dollar kann sich in der Regel überhaupt keinen Urlaub leisten – schon gar keinen unbezahlten. Doch mehr war angesichts der herrschenden Machtverhältnisse im Kongreß und des Einflusses von Arbeitgeberorganisationen nicht durchzusetzen. KritikerInnen blieb am Ende nur noch der Rückzug in den Sarkasmus: „Yuppie Relief Act“ haben sie das Gesetz getauft.

Trotzdem ist der „Medical and Family Leave Act“ unbestreitbar ein (frauen)politischer Fortschritt. Doch beim nächsten sozialpolitischen Vorhaben Clintons, der Reform des Sozialhilfesystems, paßt dieses Etikett schon nicht mehr. Objekt der Reformbegierde sind in erster Linie alleinerziehende Mütter, die von der Sozialhilfe abhängig sind. Welfare to work heißt die Devise. Zu deutsch etwa: Raus aus der Abhängigkeit von Vater Staat, rein in den Arbeitsmarkt – notfalls mit Zwang. Diese Idee trifft zwar auf die ungeteilte Zustimmung vieler Amerikaner, die Sozialhilfe in der Regel für eine Verschwendung von Steuergeldern halten. Doch den betroffenen Frauen, darunter überproportional viele Afroamerikanerinnen und Latinas, hilft es kaum. Auf dem Arbeitsmarkt erwartet sie bestenfalls ein Job knapp über dem Mindestlohn, häufig ohne ausreichende Krankenversicherung. Am Ende, so warnen die beiden Sozialwissenschaftlerinnen Mimi Abramowitz und Francis Fox Piven, geht es hier nicht um Hilfe für Frauen in Armut, sondern, wie schon unter Reagan und Bush, um deren soziale Kontrolle und Stigmatisierung. In einigen Bundesstaaten wird Müttern bereits die Sozialhilfe gekürzt, wenn sie erneut schwanger werden, ohne den Vater zu heiraten; in anderen wird diskutiert, Sozialhilfe für alleinerziehende Frauen nur dann zu gewähren, wenn die Betroffenen sich operativ das Verhütungsmittel „Norplant“ einsetzen lassen.

„Reformbedürftig ist die Arbeitsmarktpolitik“, sagt Ellen Bravo, „nicht das System der Sozialhilfe.“ Gäbe es eine gute Berufsausbildung, angemessene Kinderbetreuung und adäquate Löhne, argumentieren Abramowitz und Fox Piven, „dann würden die meisten Frauen liebend gerne auf Sozialhilfe verzichten. Doch die dafür notwendigen Strukturen zu schaffen würde den Staat mindestens 50 Milliarden Dollar kosten.“ Solche staatlichen „Investitionen in die Menschen“ und damit in die amerikanische Wirtschaft hatte Bill Clinton noch im Wahlkampf in schillernden Farben ausgemalt. Doch als Präsident bekam er die politischen Grenzen schnell zu spüren.

54 weibliche Abgeordnete im Kongreß können angesichts dieser politischen und ökonomischen Lage keine Berge versetzen, zumal sie sich vor allem in wirtschaftspolitischen Fragen keineswegs immer einig sind. Noch müssen sie vor allem lernen, was eine andere Minderheit im US-Parlament, die der AfroamerikanerInnen, bereits erfolgreich exerziert: Seilschaften bilden und sich zu einem Stimmenblock zusammenschließen, der eine innerparlamentarische Lobby für die Interessen der eigenen Klientel bildet. Sehr häufig geht es dabei gar nicht um Frauenpolitik im engeren Sinne, sondern um eine sozial gerechtere Politik für alle, von der überproportional viele Frauen profitieren.

So paradox es klingt: Für die US-Frauenbewegung ist die „Arbeitsbelastung“ nach dem Machtwechsel in Washington gewachsen. Die Politikerinnen im Kongreß sind auf eine professionelle Lobbyarbeit angewiesen, denn Abstimmungen im Parlament werden dort nicht zuletzt durch Telefon- und Briefkampagnen von Lobbygruppen entschieden. „Wir brauchen Frauen, die sich an der Basis organisieren, um sich Gehör zu verschaffen“, fordert Barbara Mikulski, Senatorin aus dem US- Bundesstaat Maryland. „Frauen müssen alle Abgeordneten mit Briefen eindecken, nicht nur diejenigen, die schon auf ihrer Seite stehen.“

Inzwischen hat sich aber auch auf lokaler Ebene eine neue Front aufgetan, wo diverse Organisationen christlicher Fundamentalisten versuchen, ihre Kandidaten in politische Gremien wie Rathäuser oder Schulausschüsse zu entsenden – zum Teil mit beachtlichem Erfolg. „Die Frauenbewegung“, sagt Gloria Steinem, „braucht lokale Strukturen – und Aktivistinnen, die kreuz und quer durchs Land ziehen, um zu organisieren.“ Und Wahlkampf betreiben, denn 1994 werden in den USA ein Drittel des Senats, das gesamte Repräsentantenhaus sowie in mehreren Bundesstaaten die Gouverneure neu gewählt. Dabei mag man es durchaus als Fortschritt ansehen, daß Feministinnen zunehmend nicht nur für, sondern auch gegen Frauen in den Wahlkampf ziehen, wie es zuletzt Gloria Steinem im Fall der konservativen Senatorin Kay Bailey Hutchinson aus Texas getan hat, deren Politik in fast jeder Hinsicht einen Ronald Reagan beglücken würde.

Die klassische Doppelbelastung für die US-Frauenbewegung also – doch ohne diese Kraftakte wird der neue politische Spielraum unter Bill Clinton nicht zu nutzen sein. Denn für den Präsidenten dürfte dieselbe Losung gelten, mit der sein Vorbild Franklin D. Roosevelt einst eine Bürgerdelegation verabschiedet haben soll: „Meine Damen und Herren, Sie haben mich von Ihrem Anliegen überzeugt. Jetzt müssen Sie mich nur noch zwingen, es auch zu tun.“