Dämonen im Paradies der Kims?

Berichte aus dem hermetisch abgeriegelten kommunistischen Nordkorea sprechen von Hungersnot und militärischem Abenteurertum  ■ Aus Tokio Georg Blume

Steht Nordkorea vor Krieg oder Zusammenbruch? Seit Wochen häufen sich Berichte über Hungeraufstände, Putschversuche und Atomtests in dem derzeit vielleicht geheimnisvollsten Land der Erde. Von „Dämonen und Gefahren“ sprach der amerikanische Generalstabschef Colin Powell, als er vor wenigen Tagen Nordkorea als ein Land beschrieb, „wo die Armee der Vereinigten Staaten im Zweifelsfall kommen, kämpfen und siegen müßte“. Tatsächlich kündigte US-Verteidigungsminister Les Aspin vor wenigen Tagen den Abbau der amerikanischen Auslandstruppen in aller Welt an – nur auf der koreanischen Halbinsel nicht. 36.000 US-Soldaten liegen dort unverändert in ständiger Alarmbereitschaft.

Die Sorgen in Washington beruhen auf neuen Anhaltspunkten, die eine Verschärfung der innenpolitischen Lage in Nordkorea vermuten lassen und die bisherige Berechenbarkeit der nordkoreanischen Politik in Frage stellen. Verzweifelt sucht die für ihren Personenkult um den dienstältesten Präsidenten der Welt, Kim Il Sung, und seinen Sohn und Nachfolger Kim Jong Il bekannte Diktatur die Konfrontation mit dem Ausland. Der angedrohte Rückzug aus dem Atomwaffensperrvertrag und die Testfeuerung der nuklearen Trägerrakete Rodong 1 haben in diesem Sommer die Welt erregt. Dafür verantwortlich könnte die zunehmend unkalkulierbare Lage im Inneren der Diktatur sein.

„Die Leute bekommen pro Tag nur noch eine Mahlzeit und sind so hungrig, daß sie fast alles essen“, berichtet Reiko Sadamitsu, die mit einer Gruppe in Tokio den 1.800 japanischen Frauen hilft, die seit den fünfziger Jahren in Nordkorea leben. Sadamitsus Informationen gründen auf jüngsten Reiseberichten von Japanern, die nach zweieinhalb Jahren Besuchersperre seit Mitte August wieder in Nordkorea einreisen dürfen. „Wir bekommen Anfragen aller Art“, erzählt Sadamitsu. „Ein Kilo Zucker kostet 140 Won (108 DM nach offiziellem Wechselkurs), das entspricht dem Doppelten eines durchschnittlichen Monatslohns.“ Die nordkoreanische Regierung hat die Hilfspakete aus Japan bisher nicht unterbunden – sie werden dringend gebraucht.

Zwei Mahlzeiten pro Tag

Durch die annähernd 100.000 Pyongyang-treuen NordkoreanerInnen, die in Japan leben, gelangen nach Angaben des japanischen Geheimdienstes Koancho jährlich rund eine Milliarde Mark nach Nordkorea. „Ein wirtschaftlicher Überlebensschlauch“, meint ein japanischer Geheimdienstbeamter. Über diese Verbindungen aber bekommt das Ausland die einzigen, wenn auch unkontrollierbaren Augenzeugenberichte aus Nordkorea, dem Land, das seine Regierenden gern als Paradies bezeichnen.

Kaum mehr umstritten ist, daß Nordkorea unter einer dramatischen Rezession leidet, die nach Berechnungen der südkoreanischen Zentralbank 1992 zu Wachstumseinbußen von 7,6 Prozent führte, nachdem die Wirtschaft bereits 1990 und 1991 um 3,7 bzw. 5,2 Prozent schrumpfte. Die Getreideernten gingen von 5,1 Millionen Tonnen Mitte der 80er Jahre auf nur 4,2 Millionen Tonnen 1992 zurück. Die Mißernten der letzten Jahre haben nach Aussagen von Deserteuren und Koreaexperten sogar die Lebensmittelversorgung der Armee bedroht. Vielen Augenzeugenberichten zufolge gilt Reis für die einfache Bevölkerung inzwischen als Rarität. Im nordkoreanischen Fernsehen wurde zuletzt vor den Gefahren der „Überernährung“ gewarnt. Statt dessen preisen die staatlichen Werbekampagnen nur noch „zwei Mahlzeiten pro Tag“. Auch dafür mußte Nordkorea in den letzten zehn Monaten Getreide im Wert von 330 Millionen Mark importieren.

Unmittelbare Ursache für den wirtschaftlichen Einbruch sind die fehlenden Hilfslieferungen aus China und der früheren Sowjetunion, die den Handel mit dem kommunistischen Bruderland jahrzehntelang hoch subventionierten. Nun sind die nordkoreanischen Öleinfuhren aus Rußland von ihrem Höchststand von über 800.000 Tonnen 1986 auf unter 30.000 Tonnen 1992 gefallen. Aufgrund der daraus resultierenden Energieknappheit arbeiten die meisten Fabriken des Landes nach Berechnungen des japanischen Koreaexperten Tamaki Motoi nur noch bei halber Kapazität.

Folgt dem wirtschaftlichen Notstand nun die politische und militärische Krise? Zweifellos erregen Putschgerüchte aus dem Land mit der viertgrößten Armee der Welt und annähernd 1,2 Millionen Menschen unter Waffen mehr Wirbel als je zuvor. Sowohl ein zum Süden desertierter nordkoreanischer Armeeleutnant als auch die südkoreanische Nachrichtenagentur Yonhap berichten von Exekutionen eines Dutzend hochrangiger Offiziere, die angeblich schon im letzten Jahr gegen das Kim-Regime rebelliert hatten.

Ausgangspunkt für die Unruhe in der nordkoreanischen Armee könnte die inzwischen weit fortgeschrittene Machtübernahme von Kim Jong Il sein. Der von seinen Auftritten gegenüber Ausländern als unberechenbar beschriebene Kim-Sohn hält unter seinem Vater bereits alle höchsten militärischen Entscheidungsposten inne. Im April startete er völlig überraschend ein Großmanöver rund um Pyongyang, das ausländische Militärbeobachter in Staunen versetzte. „Wir sind nicht mehr so sicher wie früher, ob wir die Handlungen der nordkoreanischen Militärs richtig deuten“, gesteht ein Pentagon-Mitarbeiter. Ähnlich sind die Strategen in Japan und Südkorea gestimmt.

Die neue Unsicherheit aber schürt die Katastrophenszenarien der Militärs. „Wenn US-Truppen in den Bosnienkonflikt verwickelt werden“, bemerkt der bisherige US-Oberbefehlshaber in Südkorea, General Robert Riscassi, „könnte das den Nordkoreanern als willkommene Gelegenheit erscheinen.“ Solche Rufe erinnern freilich allzu sehr an die Rhetorik des Kalten Krieges. Viel wahrscheinlicher ist, daß den Kommunisten das Wasser bis zum Hals steht und das Regime längst zerstritten ist. Eine kaum abschätzbare Gefahr für die Koreaner und ihre Nachbarstaaten aber stellt die rätselhafte Dynastie der Kims dennoch dar – zumal Vater und Sohn aller Wahrscheinlichkeit nach über Atomwaffen verfügen.