Ein türkisch-russischer Schulterschluß

■ Ciller konstatiert in Moskau „gleiche Weltsicht“ – nicht nur zum Kaukasus

Moskau (taz) – Die Karabach- Frage stand als brennendste beim Besuch der türkischen Ministerpräsidentin Tansu Ciller in Moskau zur Diskussion. Dennoch zog Frau Ciller es gestern bei ihrer abschließenden Pressekonferenz vor, eher Allgemeines zu äußern: „Rußland und die Türkei sehen die Welt gleich“, konstatierte sie. An die Stelle alter Rivalität sei gegenseitige Verständigung getreten, die zur Basis der Beilegung zahlreicher Konflikte in den beide Staaten betreffenden Regionen werden könne. Als Beispiel führte sie das Embargo gegen den Irak an, dessen Aufhebung Moskau und Ankara gemeinsam anstrebten.

Detaillierter führte sie die Resultate ihrer Verhandlungen auf wirtschaftlichem Gebiet aus. Mit dem russischen Ministerpräsidenten Tschernomyrdin wurde ein Zehn-Punkte-Abkommen vereinbart: Steigerung der russischen Erdgaslieferungen in die Türkei um das Zweifache auf zwei Milliarden Kubikmeter im Jahre 1996, proportional sollen die russischen Kohlelieferungen erhöht werden, was Rußland die Tilgung seiner Staatsschulden bei der Türkei in Höhe von 520 Millionen Dollar erleichtere. Außerdem versprach Frau Ciller den Russen Unterstützung beim Ausbau der Schwarzmeerhäfen und auch Schaffung neuer Arbeitsplätze durch Waffenkäufe türkischerseits.

In der Karabach-Frage, betonte Ciller, sei ein hoher Grad von Einigkeit zwischen Rußland und der Türkei erzielt worden. Ebenso wie ihr Land die Geschehnisse in Bosnien und Herzegowina als „Schande für die Menschheit“ betrachte, so verurteile sie auch die „aggressiven Handlungen der Armenier in Karabach“. Die türkische Ministerpräsidentin wandte sich entschieden gegen die Anerkennung Karabachs als selbständige politische Einheit. Die eisern lächelnde Lady wurde ernst bei der Frage, ob die Türkei bereit sei, den Genozid auf ihrem Staatsgebiet an anderthalb Millionen Armeniern im Jahre 1915 offiziell einzugestehen. „Den Begriff ,Genozid‘ gegen Armenier können wir in keiner Weise akzeptieren“, sagte sie: „Was damals in Anatolien geschehen ist, waren Dinge, die Menschen einander angetan haben.“ Das sei schließlich Schnee von gestern, ließ Ciller duchblicken und fuhr fort: „Aber die Aggressionen Armeniens gegen Karabach und Aserbaidschan finden heute statt und gehen heute weiter.“

Sollten sich Frau Cillers Ausführungen bestätigen, so wäre es der Türkei gelungen, als zweite der am Karabach-Konflikt interessierten Seiten das frühere armenische Monopol auf Freundschaft mit Moskau zu durchbrechen. Als erstem war dies zu Beginn der Woche dem provisorisch amtierenden aserbaidschanischen Präsidenten Gaidar Alijew gelungen. Er hatte in Moskau zu verstehen gegeben, daß ein Eintritt Aserbaidschans in die GUS der realistischste Ausweg für das Land sei.

Ohne Erklärung und Vorwarnung blieb am Mittwoch das aserbaidschanische Verhandlungsteam dem unter russischer Vermittlung geplanten Zweiertreffen mit den Karabachern in Moskau fern. Auf telefonische Anfrage erklärte der vorgesehene Delegationsleiter Dschalilow, der gleichzeitig stellvertretender Parlamentsvorsitzender ist, es sei für ihn politisch zu riskant, Baku zu verlassen, solange der amtierende Präsident Alijew im Ausland weile. Ein erstes direktes Zweiergespräch der beiden Kriegsparteien hatte am 28. Juli im armenischen Mardakert stattgefunden und zu einem in groben Zügen eingehaltenen Waffenstillstand an den unmittelbaren Grenzen der umstrittenen Enklave geführt. Er läuft Ende der Woche ab. Seine Verlängerung ist nun in Frage gestellt, ebenso der Erfolg der gestern nachmittag ebenfalls in Moskau begonnenen erneuten informellen KSZE-Gesprächsrunde. Barbara Kerneck