Ein Neffe mit Enkel-Komplex

Im Bürgerschaftswahlkampf sehnt sich Hamburgs SPD-Spitzenkandidat Henning Voscherau nach den Zeiten eines Helmut Schmidt, nach Pragmatismus und den Golden Fifties  ■ Aus Hamburg Florian Marten

Manchmal, wenn Hamburgs Bürgermeister Dr. Henning Voscherau, 52, im Badezimmer steht, ist die Welt noch ganz in Ordnung: „Ich bin mit mir und meiner Arbeit im reinen. Morgens, beim Blick in den Rasierspiegel, kann ich mir sagen: Du machst Deine Sache gut, tust, was du kannst.“ Doch das Spieglein an der Wand antwortet mit kleinen bösen Giftpfeilen, die bitter ins Herz pieksen – etwa: „Henning, du bist zwar der Beste im Land, aber weit hinter den Hamburger Bergen, bei den sieben Enkelzwergen, da lachen sie bloß.“ Und auch nach der Hamburger Bürgerschaftswahl am 19. September, ziemlich egal, wie sie ausgeht, werden sie immer noch lachen.

Dabei ist der Notar Dr. Henning Voscherau aus dem preußischen Landstädtchen Wandsbek beileibe keiner, „der sich mediengeil nach vorne drängt“. Wie schon sein akkurat aufgeräumtes Amtszimmer andeutet, ist er ein Mann von „Selbstzucht“. Die hat er auch bitter nötig, wenn er mal wieder abends in den Tagesthemen die Schröders, Lafontaines oder Wieczorek-Zeuls schwadronieren sieht: „Meine Generation in Bonn, das ist die Generation der Brandt- Enkel. Das Milieu der 68er, man könnte es sogar eine Seilschaft nennen. Da gehöre ich nicht dazu.“ Die sind zwar nur „zwei, drei Jahre älter“, doch: „Das waren 1968 schon 4 bis 6 Semester.“ Die grausame Folge: Ein Mann bleibt draußen vor der SPD-Baracken-Tür, ohne 68er-Clubcard. Mehr als nur ein Hauch von Bitterkeit schwingt mit, wenn ein SPD-Preuße wie Voscherau, dem Pragmatismus, „Vernunft“ und Zucht so wichtig sind, sich von den frechen vorlauten Toscana-68ern ausgebootet sieht, die lustvoll ihr Ego auf dem Medientablett ausbreiten und hochsolide Politfacharbeiter gar nicht richtig wahrnehmen.

Das offene Bekenntnis zum politischen Weltbild eines Helmut Schmidt ist keine Attitüde, sondern ein tiefes inneres Bedürfnis: Hamburgs SPD-Spitzenkandidat Henning Voscherau sucht Halt. Voscherau, ein begnadeter Taktiker und Intrigant, hat da, wo andere ihre politische Identität tragen, ein großes Fragezeichen. In den 80er Jahren, seiner Zeit als SPD-Fraktionschef im Hamburger Stadtparlament, war Identität nicht gefragt, ein belastbares Weltbild überflüssiger Luxus. Seinen damaligen Job, den von ihm zutiefst gehaßten Bürgermeister Klaus von Dohnanyi an der Drahtschlinge der „Wandsbek-Connection“ zu führen, erledigte er mit Bravour. Die preußischen Kanalarbeiter aus Wandsbek, seit Jahrzehnten die heimlichen Herren der Hamburger SPD, hatten an ihrem Ziehkind soviel Gefallen, daß er 1988 den resigniert-verbrauchten von Dohnanyi beerben durfte.

Eine teuflische Falle: Der Kulissenschieber und Fädenzieher sah sich plötzlich in der Rolle des Hauptdarstellers. Was nun? Erste Amtshandlung des unsicheren Stadtchefs war die Bitte um eine ordentliche Rente, ein Lex Voscherau, welches ihm, falls er vorzeitig das Handtuch werfen müsse, eine gewisse Absicherung bieten solle. Diese Unsicherheit begleitet Voscherau bis heute. Er spielt Bürgermeister, ist aber keiner. Immerhin, so melden seine persönlichen Berater heute hocherfreut: „Wenn er im Senat auf den Tisch haut, dann sind jetzt alle still. Das war früher nicht so.“

„Wäre Voscherau dumm“, so ein Bonmot aus seiner Umgebung, „dann wäre er ein schlichter Law- and-order-Mann.“ Er ist aber nicht dumm. Und so bricht beides manchmal völlig unvermittelt nebeneinander aus ihm heraus. Die Hafenstraße, Symbol für Aufmüpfigkeit und Armut, muß ausgemerzt werden, weil sie für sozialdemokratische Wohlanständigkeit „ein Schandfleck“ ist. Andererseits muß Heroin freigegeben werden, damit die „internationalen Verbrecherbanden“ nicht mehr ihr Geschäft mit den Süchtigen machen können: „Sucht ist Krankheit. Süchtige brauchen den Doktor, nicht den Dealer.“

Im Wahlkampf zieht das nicht. Und so greift er zur Droge Helmut Schmidt, malt in seinen Zukunftsvisionen verblichene Vergangenheit: Hamburg ist Kaufmannsstadt und Arbeiterstadt, hat AOK, Volksfürsorge, große Gewerkschaften und eine schier ewig regierende Sozialdemokratie. „Wir sind Hamburgs Partei! Rot pur“! ruft er in seinen Wahlreden beschwörend. Wohnungsbau, Polizei, Straßenbau und Wirtschaftsboom, sich nie mit der Handelskammer anlegen, Politik für die Standards der facharbeitenden Kleinbürgerklasse machen, so, wie einst im Wandsbek der 50er Jahre – das ist sein Wahlprogramm.

Neuerdings verspürt der ängstliche Stadtoberste Rückenwind: Hat die SPD-Basis mit Rudolf Scharping nicht den schmidtigsten aller Brand-Enkel zum Führer in schwerer Zeit erkoren und Widerlinge wie den flotten Gerhard Schröder und die rote Heidi auf ihre Plätze verwiesen? Diskutieren die Menschen nicht Onkel Helmut Schmidt als Retter aus deutscher Not? Ist da nicht auch Platz für ihn, den braven Neffen, der immer seine Hausaufgaben gemacht hat? Vielleicht in Bonn als Innenminister unter Scharping?

Zuvor aber wird in Hamburg gewählt. „Rot pur“ – das ist nicht bloß taktisch gemeint. Voscherau träumt laut und selbsthypnotisch von der absoluten Mehrheit, weil alles andere so überaus verwirrend wäre. Vor allem Koalitionsverhandlungen mit den Grünen, lauter kleinen Ungeheuern, die schon Helmut Schmidt nie verstand. Wäre Voscherau ein wenig dümmer, so würde er auf eine Große Koalition spekulieren. Weil er intelligent ist, weiß er, daß eine rot- grüne Koalition ein Kelch ist, von dem er schon bald kosten muß.

Bleibt das Nachtgebet des Kandidaten, er möge einmal nicht recht haben mit einer klugen Einschätzung: „Eine erneute absolute Mehrheit für die SPD in einer Dienstleistungsmetropole“, so orakelte er noch zu Beginn des Wahlkampfes, „ist so unwahrscheinlich wie ein Sechser im Lotto mit Zusatzzahl.“ Eins zu 14 Millionen.