Die mysteriöse Macht des Irrationalen

Vor dem Amtssitz des israelischen Ministerpräsidenten wartete am Donnerstag abend ein harter Kern von Gegnern des Abkommens mit der PLO auf die Nachricht von der „Kapitulation“ Rabins und malte das Bild vom Ende Israels an die Wand.

Uri sieht nicht aus wie ein religiöser Fanatiker. Auch nicht wie ein wildgewordener Siedler. Aber Uri ist standhaft geblieben – und mit dem jungen Mann aus der Westbank-Siedlung Kiriyat Arba bei Hebron der harte Kern der Demonstranten: einige Siedler, ein paar ultraorthodoxe Anhänger des Lubawitscher Rebbe Schneerson aus New York, eine Handvoll Neueinwanderer aus den USA und Europa, ein Dutzend „Falaschen“, aus Äthiopien stammende Juden. Den dritten Tag harren sie nun schon aus auf dem steinigen Hügel schräg gegenüber dem Amtssitz von Premierminister Jitzhak Rabin. Und weder die Holzknüppel noch die Wasserwerfer der nicht gerade zimperlichen Polizei- und Sicherheitskräfte konnten sie vertreiben. Am vergangenen Dienstag sind es vielleicht 80- oder 100.000 Menschen gewesen, die sich im Regierungsviertel versammelten. Gegen Rabin, gegen Arafat. Unmut und Verunsicherung, Haß und Angst einten sie. Am Donnerstag nachmittag sind es nicht einmal mehr 200.

Uri hantiert mit dem Funktelefon. Irgendwie ist er einer der Köpfe des Dauerprotestes. Er telefoniert und telefoniert. Es ist kurz nach 16 Uhr, als Uri schreit: „Sie machen den Verrat perfekt! Rabin und der Terrorist werden unterzeichnen!“ Lärm bricht los. Trillerpfeifen und Autohupen, Steine und Holzlatten, die rhythmisch gegen die metallenen Absperrgitter der Polizei geschlagen werden. Und Sprechchöre: „Rabin, Verräter! Rabin, Verräter!“ skandieren sie. Uri hat alle Hände voll zu tun: Trillerpfeifen verteilen, Flugblätter ordern, Transparente organisieren. Vor allem aber muß Uri nun eines: Menschen herbeitelefonieren. Und er versteht sein Handwerk: von Minute zu Minute wächst die Menge.

Die israelische Regierung erkennt gerade die PLO an. Alle hier haben das erwartet. Und sind doch fassungslos. Dieser Verrat sei das Ende Rabins, meint ein junger Orthodoxer. „Denn er führt nun eine Regierung der Palästinenser.“ Ein 50jähriger aus Tel Aviv reißt sein Hemd auf. Die Knöpfe springen ab. Zweimal sei er im Krieg gegen die Araber verwundet worden. Er zeigt auf die Narben. Und wofür? „Damit Rabin den Mördern unser Land nachwirft!“

Es wird dunkel. Die Menge ist auf über tausend Menschen angewachsen. Eine ältere Frau sitzt gelassen inmitten des gewaltigen Lärms, den Blick auf den von starken Polizeikräften und einer Doppelreihe eiserner Absperrgitter gesicherten Amtssitz Rabins gerichtet. Sie heiße Hannah, sei aus Washington D.C., lebe seit sechs Jahren in Israel, und sie verstehe nicht, was es mit den Terroristen überhaupt zu verhandeln gäbe. „Wir haben doch den Arabern nie etwas genommen. Wir haben nur angenommen, was Gott uns gegeben hat. Lesen Sie die Bibel! Und Sie werden dort jeden Ort der sogenannten Gebiete finden. Eretz Israel ist Gottes Vehikel, um der Welt Frieden zu bringen. Und darum müssen wir es bewahren.“ Es scheint eine Spezialität mancher amerikanischer Neueinwanderer zu sein, die Verse der Bibel mit Auszügen aus dem Grundbuchamt zu verwechseln.

Die ersten Reifen brennen, und die TV-Teams kommen endlich zu ihren Bildern. „Das ist echt Scheiße“, sagt Mark, ein junger britischer Jude aus London. „Wir sind doch keine Hooligans.“ Alle seien hier für Frieden. Aber diese klammheimlichen Verhandlungen mit der PLO könne er nicht akzeptieren. Niemand wisse genau, was überhaupt ausgedealt wurde. Und auch wenn man mit Arafat vielleicht noch reden könne, seien da ja noch die PLO-Hardcore-Terroristen wie Hawatmeh, Dschibril und Habasch. „Wer hat denn Arafat überhaupt gewählt? Mit wem verhandeln wir überhaupt?“

Polizei greift ein, riegelt die brennenden Reifen ab. Baumlange Sicherheitskräfte treiben die Umstehenden auseinander. Ein Chor junger Siedlerinnen aus den „Gebieten“ singt dazu: „Golan, wir werden dich nie verlassen!“ Im Pfeifen und Johlen verweht der Gesang. Und im Geheul der Feuerwehr erstirbt er endgültig. Noch immer wächst die Menge. Die neuen Flugblätter: „Frieden ja — Kapitulation nein!“ sind ausgegangen. Uri läßt dafür wieder die alten von der Großdemo am Dienstag verteilen. „Du bist selbst schuld!“, steht da blau auf weiß. „Denn du bist nicht gegen Rabin und Peres aufgestanden. Eretz Israel und Jerusalem stehen nicht zum Verkauf! Laß diesen Selbstmord nicht zu!“

Die Demonstranten hämmern und trillern aus Leibeskräften. Die grellen Scheinwerfer der Kameras werfen Lichtkegel. Und die kühle Abendbrise weht Tausende von Flugbättern auf Rabins Amtssitz zu. Uri hat jetzt ein wenig Zeit. Er wischt sich den Schweiß von der Stirn, putzt umständlich die beschlagene Brille. Rabin habe überhaupt kein Mandat für diese Kapitulationsverhandlungen.

„Wir müssen uns selbst helfen, um zu überleben“

Das Volk stehe gegen ihn, und seine Mehrheit in der Knesset beruhe nur auf den sieben arabischen Sitzen. Der junge Siedler spricht konzentriert: ruhig, langsam, überlegt. Die Regierung verberge ihre wahren Absichten. In Wirklichkeit gehe es ihr nicht nur um die Preisgabe von Gaza oder Jericho, sondern um die Aufgabe von ganz Samaria und ganz Judäa, wie er die Westbank nennt. Obendrein wolle sie den Golan an Syrien ausliefern. Am schlimmsten aber sei: „Rabin möchte die Einheit Jerusalems aufgeben.“ Ein Trupp Kids holt sich einen Karton knallbunter Trillerpfeifen. Ihnen macht der Rummel einfach nur Spaß: Sie pfeifen sich die Lunge aus dem Hals, hämmern begeistert auf Blech und Eisen, plärren: „Rabin hau ab!“

Uri telefoniert. Der „Kapitulationstermin“ stehe fest, sagt er: Freitag früh. Er sieht echt niedergeschlagen aus. Es gäbe bereits Pläne der Linken, Ost-Jerusalem für die Araber aufzuteilen, fährt er dann fort. Die guten, die patriotischen Israelis würden das aber nie zulassen. „Auch um den Preis eines Bruderkriegs.“ Überhaupt seien die Linken „Maniaks“, einfach Verrückte. Immer würden sie „Palästinenser, Palästinenser“ plappern. Aber die seien doch nur eine Chimäre. „Es gibt gar keine Palästinenser. Nur Araber, die in Israel eingewandert sind.“ Und diese Araber hätten 27 Staaten, praktisch einen ganzen Kontinent, auf dem sie sich verteilen könnten. Großzügig hat Uri die Zahl der arabischen Länder um fünf vermehrt. „Wir aber haben keine Alternative. Wir müssen uns selbst helfen, um zu überleben.“ Die Existenz Israels aber sei gefährdet angesichts der neuen Politik. Denn jeder Meter preisgegebenen Bodens bedeute ein strategisches Aufmarschfeld für die Terroristen. „Hunderttausende sogenannter Palästinenser, Heckenschützen und Hamas-Fanatiker, werden doch wie die Heuschrecken aus Jordanien und Libanon in Israel einfallen.“ Und sitzen die Araber erst einmal in Judäa, Samaria und auf dem Golan mit all den Wasserreservoirs, „haben sie uns in der Hand“. Uri bricht ab. Er muß dringend telefonieren und einen Packen der schwarzgelben Aufkleber „Israel Is In Danger!“ organisieren.

Ein älterer Mann steht etwas abseits vom Getöse. Er wirkt wie aus einer anderen Zeit herbeigeweht: Baskenmütze, Pfeife, bemerkenswerter Anzugschnitt. Irgendwie ein Bilderbuch-Republikaner des Spaniens der 30er Jahre. Doch er stammt nicht aus Barcelona. Und er ist auch kein Linksintellektueller. Er ist Professor für Hebräisch. „Aber schreiben Sie bitte nicht, wo.“ Denn er gehöre dem rechten Flügel an, und seine Kollegen seien doch alle vom „left wing“. Um in dieser historischen Stunde einen Blick auf den „Locus actionis“ zu werfen, sei er gekommen. Und noch wisse niemand, wie sich das Abkommen zwischen Rabin und Arafat auswirken werde. Von einem rationalen Standpunkt aus gesehen, sei die Unterzeichnung ja sinnvoll, vielleicht gar unvermeidlich. Aber wer nur rational handle, ohne die geheimnisvolle Macht des Irrationalen zu bedenken, verrenne sich leicht in die Irre. Ein dunkler Satz. Der Professor muß erklären: „1948 war eine ähnliche Situation: Die Ägypter griffen uns von Süden her an, Syrer und Libanesen von Norden, und vom Osten kamen Jordanier, Iraker. Sie wollten uns im Meer ersäufen. Eine hoffnungslose Lage. Nach rationalen Erwägungen hätten wir sofort die weiße Flagge hissen müssen.“ Der Professor macht eine Kunstpause. „Wir haben das nicht getan. Und nur weil wir irrational gehandelt haben, gibt es heute Israel.“ Freilich, das Irrationale ist wirklich eine geheimnisvolle Macht. Und es hat auch schon zu ganz anderen Ergebnissen geführt. Walter Saller, West-Jerusalem