Der langsame Abschied

Die Rote Armee verläßt Wünsdorf, jetzt besetzen Planer das Militärgelände  ■ Von Rolf Lautenschläger

Es ist noch dunkel im Raum, als das Maschinengewehrfeuer beginnt. Ein paar Sekunden später setzen Böller aus Panzern ein, explodierende Bomben sind zu hören. Sanft blendet Ludmilla Lemesch die Tonspur aus, und im Licht erscheint in nicht weniger stilisiertem Naturalismus ein riesiges Diorama: Es zeigt den Sturm der Roten Armee auf das Reichstagsgebäude – als Gruselbild in 36 Meter Länge und 7 Meter Höhe. Lemesch: „Auf dem Diorama des russischen Künstlers Juri Delewski können Sie rechts die Moltke- brücke und den Tiergarten erkennen, links den Reichstag. Das Rundbild stellt den Morgen des 29. April 1945 dar, an dem die Rote Armee mit einer taktischen Meisterleistung der Kriegskunst zum Angriff übergeht.“

Ludmilla Lemesch, Direktorin des Museums im Wünsdorfer Hauptquartier der „Westgruppe der russischen Streitkräfte“, erzählt jene Tagesereignisse als dramatische Szenenfolge und verweist auf die vor dem Bild aufgebaute Inszenierung aus gesprengten Hauswänden, Granaten und Stahlhelmen. „Um die Illusion zu steigern, schuf der Künstler einen Vordergund, der bis in das Diorama hineinreicht. Beispielsweise ist der Helm des faschistischen Offiziers dort echt, der Tote aber gemalt.“

Wir, eine handverlesene Schar von Planern und Journalisten, die auf Einladung der Landesentwicklungsgesellschaft Brandenburg (LEG) das abgeschlossene Terrain der russischen Garnison südlich von Berlin besuchen dürfen, kneifen die Augen zusammen, um im diffusen Licht besser sehen zu können. Wie lange das Diorama noch zu besichtigen sei, frage ich die Museumsdirektorin, und welche Zukunft es nach dem Abzug der Truppen im August 1994 habe. Lemesch, die Schulklassen, Soldaten, Veteranen und Parteigenossen an den Exponaten vorbeischleuste und auf alle Fragen eine Antwort wußte, zuckt die Schultern: „Ich weiß es nicht.“ Sie lächelt: „Alles vergeht.“

Aus Ludmilla Lemeschs Stimme spricht der lange Abschied. Im „Haus der Offiziere“ und seinem 1972 eröffneten wunderlichen Museum spürt man nichts vom Abgang der GUS- Truppen. Der revolutionäre Heroismus der Sowjetarmee scheint konserviert als rotsamtene Abfolge glorreicher Siege. Auf den Insignien aus Hammer und Sichel und den Büsten im Kolossalformat ruht der Staub. Die Zeit steht still in der Wünsdorfer Garnison, wie die Zifferblätter der Turmuhr am Gebäude, die ein bronzener Lenin ungerührt bewacht.

Major Timaschkow, Presseoffizier beim Oberkommando, ist genervt von uns Besuchern sowie von Oberst Karjewitsch, der sich in Galauniform vor den T-34-Panzern und Stalinorgeln ablichten läßt. Die vielen Fragen über das Datum des Truppenabzugs und die Modalitäten der Übergabe passen ihm nicht. Die Räumung des Geländes werde ohne Hast über die Bühne gehen. „Ein Tag ist keine Zeit, sagt man in Rußland.“ Er verteilt den Seitenhieb an die Adresse der drängelnden LEG- Architekten, denen alles zu langsam geht, weil sie eine neue Stadt auf dem Areal planen wollen.

Doch auch das Hauptquartier der Westgruppe befindet sich in einem leisen, aber steten Auflösungsprozeß. Im mittleren Abschnitt der 560 Hektar großen und neun Kilometer langen Militärbasis häufen sich die Panzerwracks, deren ausgeräumte Stahlhüllen wie tote Waben aufeinandergeschichtet liegen. Ein Teil der rund 200 Kasernen trägt bereits vernagelte Fenster. Batterieladestationen und Tanklager, Munitionshallen und Garagen gleichen verlassenen Orten.

Daß alles vergeht, fällt vor den Toren der Militärstadt ins Auge. Die Garnison rückt ab. LKWs, Panzer und anderes Kriegsgerät werden auf dem eigens eingerichteten Bahnhof verladen.

„Nach Moskau!“ brüllen Betrunkene am Bahnhofskiosk. Vor dem Hauptquartier hat sich ein Schwarzmarkt aus fliegenden Händlern und Budenbesitzern angesiedelt. Der Bahnhofsvorplatz gibt einem illegalen Autohandel Raum. Im Schatten des Umzugs von West nach Ost halten sich kleine Ganoven, Huren und schwere Jungs, heißt es vor Schoepes Blumenladen, direkt am Bahnhof. Es gebe Waffenschiebereien, es werde geklaut. Eine Kundin: „Die Wende hat das Leben hier verändert. In den Bungalows am See wird dauernd eingebrochen – natürlich waren das die Russen.“

Von Ausländerfeindlichkeit will Hartmut Klucke, Amtsleiter aus dem nahen Zossen, nichts wissen. Gleichwohl hält er die Soldaten für die Täter. Die wachsende Kriminalität, so Klucke, „ist ein Problem, das natürlich nach dem Abzug aufhören wird. Dennoch lassen die Wünsdorfer ihren Ärger nicht eskalieren. Aufruhr unter der Bevölkerung gibt es nicht – aber Proteste.“ Im Bewußtsein, daß „das Ganze“ in einem Jahr vorbei sei, „läßt es sich aushalten“. Zudem: Im Laufe der dreißigjährigen Anwesenheit hat man sich „aneinander gewöhnt“. Trotz der Absurdität der Nichtbeziehung zum Brudervolk sicherte die Garnison einigen hundert Wünsdorfern ein gutes Einkommen.

Die Geschichte des Militärstandortes Wünsdorf schrieben vorwiegend deutsche Militärs, erzählt auf der Rundfahrt Jochen Lunebach, Projektleiter der LEG in Wünsdorf. Aus einer Bleistiftnotiz in den Akten des Generalstabs Wilhelms II. zur Vergrößerung des Heeres auf 100.000 Mann entwickelte sich ab 1906 entlang der Wünsdorfer Landstraße eine Infanterieschule. Lunebach: „Mit der Machtübernahme der Nazis begann für Wünsdorf die Entwicklung zum militärischen Großstandort. Die Schienenwege ins nahe Berlin wurden ausgebaut, 1934 Panzerregimenter und 1935 die ,Heereskraftschule‘ stationiert. Neben den Mannschaftsbauten in Reih und Glied legten die Garnisonsplaner in dem waldreichen Gebiet landhausartige Offiziersvillen an.“

1939 gruben sich die Oberkommandierenden der Wehrmacht (OKW) in fünfgeschossige Bunker ein. Eine maulwurfsbauartige Kommandozentrale „Zeppelin“ mit Büros, Besucherzimmern und Funkerräumen entstand in Beton, unter dem Hitler und seine Generale den Überfall „Unternehmen Barbarossa“ auf die Sowjetunion vorbereiteten. 1945 stürmte die Rote Armee den Wehrmachtsstandort. Seit 1953, nach dem Umzug aus Karlshorst, befindet sich in dem Sperrgebiet das Oberkommando der Westgruppe der sowjetischen, nach 1990 der russischen Streitkräfte.

Die Garnison gliedert sich in fünf „Militärstädte“. Waldgebiete trennen die Bereiche. Die Fliegerstadt liegt im Norden – die Offiziersstadt mit kleinen Villen, Alleen und Grünflächen im Süden, verbunden durch die schnurgerade ehemalige B 96 von Zossen nach Baruth.

Trotz der Übergabe der „Militärstadt 5“, einer kleinen Exklave am südlichen Rand der Anlage, an den Bund, lassen sich die russischen Offiziere nicht überall in die Standortkarten gucken. Insbesondere für die drei „Verbotenen Städte“, das Panzerwerk, Teile der Fliegeranlage und die Fernmeldeeinrichtungen, heißt es vchod vospreschjon – Zutritt verboten. Auch bei unserem Besuch senkt sich hier der Schlagbaum.

Also kehrt. Solche Geheimnisse haben den Ort – lange vor uns – zum Mythos geweitet: Über 70.000 Menschen sollen sich zeitweise in der Garnison aufgehalten haben, Bunker und die Spionageabteilung sollen nur auf geheimen Militärkarten verzeichnet gewesen sein. Schließlich, so die Legende, befinde sich ein unterirdischer Raketenbahnhof auf dem Gelände. „Alles Unsinn“, konstatiert Klucke auf dem Rückweg, zudem ist er sauer auf die Russen: „Bis zum Ende des Jahres müssen wir Klarheit haben, was sich auf dem Areal befindet. Die wenigen Besuche haben nur teilweise das Wissen über nutzbare Bauten vergrößert. Die entsprechenden Daten basieren derzeit auf Luftbildern und Karten aus Moskau. Die Russen mauern.“

Eine militärische Nutzung durch die Bundeswehr wird es nach 1994 nicht geben. Die Liegenschaften passen nicht in die Konzeption der Streitkräfte, sagt Oberstleutnant Müller, Pressesprecher im Potsdamer Territorialkommando Ost. Für die zivile Zukunft werden Pläne geschmiedet. Die LEG Brandenburg richtete sich ein kleines Büro als Außenstelle nahe der Garnison ein. Reinhard Weise, LEG-Leiter Konversion, zeigt Perspektiven für das Areal auf, die an Gigantismus, Illusionen, Größe und Kosten kaum zu überbieten sind: „Über zwei Drittel der bestehenden Bauten sind in gutem bis sanierungswürdigem Zustand. Etwa die Hälfte der Gebäude könnte für Wohnungen und soziale Infrastruktureinrichtungen genutzt werden“.

Die Szenarien Weises, im Auftrag der Gemeinde Wünsdorf, reichen von der „Nullvariante“ und dem rigorosen Abriß der Bauten über einen großdimensionierten Öko- und Freizeitpark bis zur Techno- und Beamtenstadt mit sehr spezifischen Siedlungen und Arbeitsplätzen.

Die meisten Einwohner, rund 40.000, könnte eine „Flughafenstadt“ aufnehmen, vorausgesetzt, das nahe Sperenberg mutierte zum Berliner Großflughafen. Pläne für eine „Beamtenstadt“ oder eine Öko-Stadt für rund 15.000 bis 20.000 neue Bewohner wären ebenso denkbar wie eine New Town mit Forschungs- und Wissenschaftseinrichtungen, High- Tech-Parks und Zukunftsuniversitäten, die die Garten- wohl in eine steinere Stadt verwandeln würden. Investitionen von mehreren Milliarden Mark, so Projektleiter Lunebach, neue Erschließungen und Verkehrsverbindungen mit Berlin und dem Umland wären dafür die Voraussetzungen.

Das klingt wie süßer Honig. Doch der Grundriß vieler Kasernen gleicht mit Mittelgang und Zellen eher einer Klosteranlage oder einem Gefängnis, die für Wohnzwecke wenig geeignet sind. Eine Umwandlung in Wohnungen für die Ansprüche von High-Tech- Managern oder Familien ist oft teurer als der Abriß. Doch Angst vor einer zu schnellen Entwicklung und den hohen Kosten für die Sanierung der Altlasten zeigt niemand – auch nicht Wünsdorfs Bürgermeister Werner Leese. Den Standort verkommen lassen will er nicht. Die „Visionen“ müßten langsam an die 2.500-Seelen-Gemeinde herangeführt werden. Stück für Stück und mit den Mitteln der behutsamen Erneuerung. „Sonst krempeln die uns um.“