Eine Art Parallele

Michael Nymans Oper „The Man who Mistook his Wife for a Hat“ als „Neues Musiktheater“ in Berlin  ■ Von Fred Freytag

Der Wahnsinn hat momentan keine Saison. In Rezessionszeiten pflegen psychische Krankheiten zurückzugehen, und als Thema der Filmindustrie, die sich einst durch ernsthafte Werke wie Hannah Greens „Ich habe dir nie einen Rosengarten versprochen“ hatte anregen lassen, hat der Wahnsinn bereits zu Anfang der Neunziger mit Kinofilmen wie „Rain Man“ oder „Awakenings“ Höhepunkt und Ende gefunden. Oliver Sacks, Neurologie-Professor am New Yorker Albert Einstein College of Medicine, hat sich, nicht nur mit der Buchvorlage zu „Awakenings“, als Autor im Grenzbereich von Populärwissenschaft und Belletristik einen Namen gemacht. „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“ (1986), eine Sammlung in lockerem Plauderton erzählter Fallbeschreibungen aus seiner neurologischen Praxis, gelangte gar in die Bestseller- Listen.

Die Titelstory des Buches handelt von „Dr. P.“, der unter visueller Agnosie leidet – der Unfähigkeit, trotz funktionierender Sinnesorgane Dinge bildlich richtig zu erkennen und zu benennen, eine Krankheit, die sich häufig als Folge von Schlaganfällen oder Hirntumoren ausbildet. Das Faszinierende aber ist die Art, wie der ehemalige Sänger und Musikprofessor diesen Defekt kompensiert: Trotz obskurer Fehler, wie eben den Kopf seiner Frau mit einem Hut zu verwechseln oder seinen Schuh als Fuß und umgekehrt zu bezeichnen, ist er in der Lage, sein alltägliches Leben durch musikalische Muster, durch ein ganzes Repertoire von Erkennungsmelodien zu meistern: „Er singt die ganze Zeit, Eßlieder, Anziehlieder, Badelieder, alles mögliche. Er kann nichts tun, ohne ein Lied daraus zu machen.“

Diese beinahe harmlos erscheinende Geschichte wurde nun zum Knüller der Berliner Saison. Peter Brook hat sie als „theatralische Entdeckungsreise“ für die Berliner Festwochen inszeniert und stürzt bereits im Programmheft in einen Kitschbegriff von Geisteskrankheit ab, den man längst erledigt glaubte: „Für Sacks waren die Patienten keine minderwertigen Wesen, sondern Krieger, die die inneren Tiefen und Abgründe mit dem gleichen Mut und der gleichen Entschlossenheit durchquerten wie die Helden der tragischen Mythen.“ Man könnte meinen, Brook seien da die Worte nur ein wenig ausgerutscht; aber an anderer Stelle erklärt er mit naturalistischem „Jugend forscht“-Blick den Erfolg des Buches mit der Neugierde des Lesers, der „fasziniert und bewegt war vom Reichtum des darin enthaltenen Materials“. Menschenmaterial wohlgemerkt.

Interessanter erscheint da die als Neues Musiktheater angekündigte Kurzoper-Version des englischen Komponisten Michael Nyman, die zur gleichen Zeit im Podewil ihre deutsche Erstaufführung erlebte. Es war die erste Musiktheaterproduktion des Podewil, das sich, gleich hinterm Roten Rathaus im Verwaltungsviertel des alten Berliner Stadtzentrums gelegen, nach dem Fall der Mauer vom „Haus der jungen Talente“ zum Sitz der senatseigenen „Kulturveranstaltungs- und Verwaltungs- GmbH“ gewandelt hat. Mit üppigem Etat (im Bereich Musik etwa das Dreifache des Musikressorts der Berliner Akademie der Künste) und frisch renovierten Räumen ausgestattet, widmet man sich nun Neuer Musik, vorrangig in ihren Rand-, Zwischen- oder Grenzbereichen, und entsprechendem Theater.

Viel hatte Michael Nyman sich vorgenommen, der aus der Avantgarde kommt (1974 hatte er mit einem Buch über John Cage von sich reden gemacht) und durch seine Filmmusiken zu Kinowerken Peter Greenaways („Verschwörung der Frauen“, „Der Bauch des Architekten“) bekanntgeworden ist. Ziel seiner Oper ist es, „mit Hilfe des musikalischen Gewebes eine Art Parallele zu Dr. P.s Verlust des Gesichtssinnes zu erzeugen“. Nyman sagt, er habe „eine musikalische Identität“ herstellen wollen, „die bereits zu Beginn instinktiv als ,vertraut‘ akzeptiert werden könnte, die aber dennoch im Verlaufe der Oper durch Entfernung von Einzelheiten, Konturen, Melodie, Kolorit, Struktur etc. zunehmend ,entfamiliarisiert‘ werden würde“. Er hat Schumanns „Dichterliebe“ als Material gewählt: Das ist erstens sehr bekannt, und zweitens gliedert sich Schumann, am Ende seines Lebens der geistigen Umnachtung anheimgefallen, nahtlos ins Geisteskranken-Sujet ein.

Drei Sänger in den Rollen des Neurologen Dr. S. (Dan Speerschneider, Tenor), des Patienten Dr. P. (Bernd Gebhardt, Bariton) und dessen Frau (Anna Clementi, Sopran) werden von einem um Harfe und Klavier erweiterten Streichquintett begleitet (Storstroems Kammerensemble, Leitung Svend Johansen), das sich über eine gute Stunde in vermeintlich Schumannschem Wohlklang ergeht. Irgendwoher zitierte, aus dem Zusammenhang gerissene Harmoniewendungen wiederholen sich, von gleichmäßig pulsenden Begleitfiguren des Klaviers untermauert, unablässig bis ins Unendliche gedehnt. Da weiß jeder Klang brav, wo er steht, läßt sich ordentlich nach fünf, drei oder auch mal vier Viertelschlägen klischeehaft romantisch verrücken, um schließlich dorthin wieder zurückzukehren, wo er hergekommen ist. Und die Harfe kann mit ihrem üppig und pausenlos über dem Ensembleklang ausgestreuten Klangzucker kaum verdecken, daß sich das Streichquintett mehr mit Intonationsproblemen denn mit musikalischer Sinngebung befaßt. Die Singstimmen, passabel interpretiert, bewegen sich über dem fast ununterbrochen durchlaufenden, etwa einstündigen Harmonieband in nettester Musical-Manier.

Mehr schließlich kann das Libretto, für das Christopher Rawlence verantwortlich zeichnet, auch nicht bieten. Ein paar aussichtslose Versuche hat er unternommen, der neurologischen Fallstudie durch witzelnde Aussprüche Dr. P.s ein Ideechen von gesellschaftskritischer oder politischer Dimension einzuhauchen, wie sie ja in (nur scheinbar) verwandten Sujets wie Alban Bergs „Wozzeck“ oder Verdis „Macbeth“ durchaus im Vordergrund steht. Und erlag schließlich wie Peter Brook dem Hang zum Medizinkitsch – die Oper endet mit den Worten des Arztes: „Ich habe mich oft in ihn (den Patienten Dr. P., d. Red.) hineinversetzt, seinen Hut getragen, mir seine Sicht der Dinge vorzustellen versucht...“ – eine Aussage, die bei Sacks nirgends zu finden ist. Der Arzt, über die Maßen idealisiert, macht sich den Patienten zum zeitweiligen Lebensinhalt, und was Oper sein wollte, findet sich in lauwarm-romantisierender Harmonie-Sauce mit hübsch- harmlos diatonischen Melodiechen als Schwarzwaldklinik-Pendant wieder.

Die Frage nach der Musiktheater-Tauglichkeit des Stoffes war vermutlich in der Begeisterung für den Kitsch verlorengegangen. Zu Beginn und am Ende darf der Neurologe über die Krankheit des Patienten sinnieren; der mittlere Teil spielt in seiner Praxis, dann beim Patienten zu Hause. Mehr passiert nicht, von diagnostischen Arien des Arztes abgesehen. Was hilft es noch, wenn da völlig zusammenhanglos Dr. P. zum Beweis seiner musikalischen Fähigkeiten „Ich grolle nicht“ aus Schumanns „Dichterliebe“ vorträgt oder schließlich gar, ins Stottern verfallend, Mozarts Papageno zitieren darf, was lediglich zu ein paar verhaltenen Lachern des Publikums taugt. Was blieb da Christina Tappe (Inszenierung) und Frauke Kuhfuß (Dramaturgie) anderes, als brav die nötigen Requisiten auf der Bühne umherschieben zu lassen, die Frau des Dr. P. musical- püppchenhaft mit schwarzer Hornbrille und rotem Einteiler aufzupeppen, den Neurologen mit Zeigestock und Wandbild in schönster Schultheatermanier als trockenen Wissenschaftler zu persiflieren, den Patienten clownesk zu verfremden.

Im Programmheft aber ist üppig dokumentiert, was Nymans Stück träumte zu sein: Michel Foucault wird mit einem Zitat aus „Wahnsinn und Gesellschaft“ als Zeuge aufgerufen, Baudrillard und Roland Barthes bleiben auch nicht außen vor, John Eccles und Karl Popper werden bemüht, und das ganze Zitat-Gemüse ist mit einer schematischen Darstellung der Hirnregionen und – was sonst – ein paar Zeichnungen von M.C. Escher garniert. Nur Douglas R. Hofstadter („Goedel, Escher, Bach“) wurde einfach vergessen, rächte sich, schlug rekursiv zurück: Oder ist es etwas anderes als Agnosie, ein Medizinkitsch-Musical mit Neuem Musiktheater zu verwechseln?