Normal, was heißt das schon?

■ Neue Theaterleidenschaften im Jugendclub des Bremer Theaters / Proben zum ersten eigenen Stück

„Ich bin ein Verrückter,“ sagt Kai und setzt sich vor den Spiegel. Dann blickt er gespannt nach vorne auf sein Spiegelbild — und wird zusehends blasser. Ruckzuck geht das, wenn der Chef-Maskenbildner des Theaters am Goetheplatz die Schminke aufträgt. Ein Hauch lila noch, und die Augenhöhlen sinken tiefer, und zweimal auf die Tube gedrückt, schwupps ein Klacks rote Farbe, schon leuchtet eine fiese Wunde auf Kais Wange — Anstaltsleben macht eben kaputt.

Steffi geht es nicht besser als sie vom Spiegel aufsteht. Am Hals und im Gesicht prangen blaue Flecken. Aber sie lacht trotzdem, weil Benjamin ihr Aussehen nämlich gar nicht fassen kann — wo er sich doch in sie verlieben soll, wenn's nach Steffis Drehbuch geht. Ein paar Minuten später allerdings hat er sich selbst vom smarten Jeans-Träger in einen abgezehrten, alterslosen Heimbewohner verwandelt. Trotzdem: Steffi will ihn haben — laut Drehbuch.

Daß Benjamin sich statt Steffi für die schickere Insassin Elvira interessiert, tut dem gemeinsamen Theaterleben der drei keinen Abbruch. Denn wie die meisten der zwölf SchauspielerInnen im Jugendclub des Bremer Theaters haben sie sich für ihre Rollen selbst entschieden, und die enttäuschte Liebe gehört ja dazu. Außerdem sind sie ganz froh, überhaupt dabei zu sein, denn der Andrang war riesig bei den ersten Treffen des Jugendclubs im letzten Herbst.

„Knapp hundert Leute kamen“, sagt Inge Winkler, die als hauptamtliche Organisatorin, Regisseurin, Bühnenbildnerin und Frau-für-fast-alles die Leitungsfäden in der Hand hält. Ständig ruft es „Inge“ über die Probebühne, da gefällt hier die Maske nicht recht und dort fehlt eine Tasche im Kostüm: „Oder wo soll ich die Zigarette sonst hinstecken?“ fragt der junge Mann im taschenlosen Krankenhemd ratlos nach einer neuen Regieanweisung. „Der Anfang war nicht einfach,“ fährt Inge Winkler fort. „Schon bei dem Wort Verbindlichkeit gerieten manche in Panik. Und Spielerfahrung brachten längst nicht alle mit.“

Seit März hat sich eine feste Truppe von SchülerInnen, Berufstätigen, Zivis und StudentInnen gefunden. Aus anfänglich einem Treffen pro Woche mit Körpertraining und Übungen wurden seitdem vier wöchentliche Proben. Beginn um 18 Uhr, vier Stunden lang; Einzelübungen mit dem Schauspieler und Regieassistenten Ben Bakare- Tinko oder Inge Winkler sind da noch nicht enthalten. Aber: „Laien brauchen mehr Zeit, als andere Schauspieler“, sagt Inge Winkler. Und im Oktober wird „Stravaganza“, das Stück über die Auflösung der psychiatrischen Anstalten in Italien, Premiere haben.

Wer den jungen SchauspielerInnen die Fragen „Warum Theater, wofür so viel Engagement?“ stellt, ist als Mensch ohne Theaterleidenschaft sofort entlarvt und provoziert Juxerei. „Wegen der Bezahlung natürlich“, wird da gelacht — weil es außer ein paar paar Mark für die Hauptproben und die Auftritte nur Ruhm zu ernten gibt. Aber dann wird Steffi doch ernst und verrät, daß sie in Ottersberg Kunsttherapie studiert, und daß Schauspielerei neuerdings dazu gehört. Und Benjamin will das Hobby zum Beruf machen, wenn er die Schule hinter sich hat. Das hat sich Nicole, die Buchhändlerin schon abgeschminkt — nach fünf erfolglosen Bewerbungen zum Traumberuf einer Maskenbildnerin.

Dominik stellt er sich gerade auf seine Rolle ein, als ich ihn frage, was er im normalen Leben macht. „Normal — was ist das schon?“ grinst er breit. Er spielt eine gemeine Tunte, den Vater der schicken Elvira, der die Tochter in die Anstalt steckte, um freier leben zu können. Diese Rolle von einem Mann mit zwei Gesichtern ist ihm anfangs schwergefallen. Aber er hat viel geübt, mit den anderen diskutiert und ist in eine Travestie- Show gegangen.

Um mehr zu erzählen, reicht die Zeit nicht, die erste Probe mit Maske und Kostüm läuft auf vollen Touren und gleich muß auch Dominik auf die Bühne. Von dort kommen laute Stimmen, die Insassen haben Streit und beschimpfen sich: „Du bist doch verrückt!“ Und jemand keift: „Verrückt, verrückt, was heißt das schon?“ Eva Rhode