■ Helmut Kohl und die CDU nach dem Berliner Parteitag: Eine devote Versammlung, ein strahlender Kanzler
: Machterhalt als Lohn der Entmündigung

Keine Überraschung in Berlin: Die Partei Helmut Kohls agiert auf bescheidenstem Niveau – und bleibt unangefochten. Weder ihre politischen Gegner noch die Krise, für die sie politisch die Hauptverantwortung trägt, scheinen sie ernstlich zu gefährden. Eine selbstgefällige Versammlung, konstitutionell unfähig zur Irritation. Das bleibt angesichts der Schere zwischen den einstigen Versprechungen und der aktuellen Situation schon verwunderlich genug; zum Mysterium gerät es angesichts eines Parteitages, der nicht einmal zu verbergen suchte, wie sehr die stärkste Regierungspartei seit 89 nach unten nivelliert wurde: nicht der Ansatz einer Kontroverse, die Redebeiträge oft kaum mehr als Ergebenheitsadressen und Anbiederung nach oben, Debatten, wie die zur Inneren Sicherheit, auf Stammtischniveau, die einschneidenden Beschlüsse längst programmiert.

Einzig der Verantwortliche für diese triste Situation schwebt über der Versammlung. Kohl residiert, und der innere Zusammenhang zwischen dem erzwungenen Niveauverlust seiner Partei und seinem eigenen Statusgewinn ist mit Händen zu greifen. Er wächst, indem die Partei weiter schrumpft. Alle, die ihm in der Vergangenheit gefährlich werden konnten oder wollten, hat er weggebissen; jetzt sitzen sie – Geißler, Süssmuth, Biedenkopf – auf dem Podium, als Warnung, wohin Unbotmäßigkeit führt. Die Devotion, mit der sie die Dominanz des Kanzlers hinnehmen – nicken, klatschen, danken – erinnert an barbarische Rituale. Doch die neuen Günstlinge – Hintze, Merkel, Heitmann – passen längst besser zur Partei. Weil die Partei formiert, der Zeitpunkt des Aufstandes ohnehin längst überschritten und selbst der Zweck verweigerter Subordination nicht mehr recht erkennbar ist, klingt noch Heiner Geißlers kritisch gemeinte Anmerkung, alles sei auf die Person des Kanzlers konzentriert, wie purer Fatalismus. Denn unbezweifelbar ist Kohl der Garant dafür, daß mit ihm auch die Union weiter auf der Sonnenseite steht. Der Machterhalt als Lohn der Entmündigung, Kohl in der Rolle des Paten.

Die spielt er wahrlich nicht schlecht. Die Verantwortung gegenüber der Partei, auf deren Kosten er sich zäh saturierte, nimmt er wahr. Das soll ihm einer nachmachen: die Selbstgewißheit und Gelassenheit, mit der er in Berlin den Dauerwahlkampf eröffnet und die Krise als Herausforderung präsentiert, die quasi naturwüchsig auf ihn zuläuft. Ob die vorgestellten Ansätze der ökonomischen und finanziellen Sanierung wirklich greifen und eine realistische Perspektive auf das Ende der Krise eröffnen, gerät leicht zur Nebensache angesichts der Art und Weise, wie Kohl seine neuen Standort-Slogans präsentiert. Er verkörpert, was Parteivolk und Wähler immer schmerzlicher vermissen: Sicherheit, Souveränität, Zukunftsgewißheit. Und weil Wahlen, zumal die, die sich um ökonomische Zukunftssicherung drehen, eher nach Stimmungen, kaum nach kühlem Abwägen alternativer Ansätze entschieden werden, sind Kohls Aussichten 1994 überaus günstig.

Vor diesem beruhigenden Hintergrund beginnt Kohl, so scheint es, noch einmal zu experimentieren. Statt der Versuchung nachzugeben, den Kurs der Partei ostentativ nach rechts zu verschieben, adaptiert er Formeln, die früher zum liberalen oder sozialdemokratischen Bestand gehörten. Die Mitte – so seine Berliner Botschaften – bin ich; doch wenn sein Herausforderer Scharping sich anschickt, der SPD Vision und Reformpathos zugunsten eines Nach-Enkel- Pragmatismus auszutreiben, scheint Kohl gerade dabei, diese Leerstelle zu besetzen: Die unumgänglichen Einschnitte verkauft er als Moment eines zukunftssichernden Umbaus, die ökonomische Krise gerät zur Einstiegschance für die Modernisierung. Während die SPD den Mut zur Alternative verloren hat, preist er Veränderungsbereitschaft als konservative Tugend. Ein Monolith propagiert den Aufbruch.

Auf neue Art hält Kohl dabei die Sozialdemokraten auf Distanz. Es ist zum einen sein präsidialer Habitus, zum andern wohl die Ahnung des ähnlichen Naturells seines Herausforderers, die Kohl alle Schärfe in der Auseinandersetzung vermeiden läßt. (Noch) nicht satisfaktionsfähig, lautet das Urteil, das er 94 auch den Wählern suggerieren wird. Und in dem Maße, in dem Scharping versucht, die gleichen Wählerbedürfnisse wie Kohl zu befriedigen, wird er ihm in die Falle gehen. Am Ende bleibt kaum mehr als des Kanzlers patriarchales Wohlwollen: einer, aus dem noch mal was werden könnte. Nach Kohl eben. In dessen väterlichem Von-oben-herab steckt wohl auch schon die Ahnung, daß der innerparteiliche Machtwechsel einst mißlingen könnte. Denn mit seiner Unersetzlichkeit heute schwinden die Chancen der Union für die Zeit nach der Ära Kohl. Matthias Geis