Auf der Steuerbrücke wird Kurs-Roulette gespielt

■ Die sozialdemokratische Führungscrew Hamburgs ist hoffnungslos überfordert: Parteien, Parlament und Verwaltung müßten von Grund auf renoviert werden

Auf dem alten rostroten Stadtstaats-Tanker Hammonia regiert Ratlosigkeit. Muschelbänke mit langen Bärten verkleben den Rumpf, im Maschinenraum tropft Öl aus lecken Leitungen, in der Offiziersmesse herrscht Katerstimmung und auf der Steuerbrücke wird Kurs-Roulette gespielt. Der diensthabende Käpt'n Henning Voscherau pinnt beschwörend Konterfeis eines alten Fahrensmanns auf den Kartentisch, der es einst in Bonn mit Elbsegler auf der Silbertolle zum Flottenadmiral brachte: Helmut Schmidt. Doch der ist im Ruhestand und wird auf seine alten Tage nicht einmal den Lotsen spielen.

Überall lauern Feinde: Die Matrosen maulen über Sozialabbau, Verkehrschaos, Arbeitslosigkeit und neiden den Herren Offizieren die fetten Prämien fürs Nichtstun, vulgo „Diäten“. In den unteren Decks machen braune Ratten und nörgelnde Schmeißfliegen fette Beute. Grüne Deerns und Jungs aus dem Zwischendeck wollen künftig in der Offiziersmesse Platz nehmen – und das beileibe nicht am Katzentisch. Meuterei auf der Hammonia? Nein. Aber selbst dem Reeder wird es langsam zu bunt. Mit immer neuen klagenden Depechen fordert die Handelskammer Dampf und Aktivität von der Steuerbrücke: Konzepte für Wohnungsbau, Stadtentwicklung, Verkehr und Wirtschaftszukunft.

Käpt'n Voscherau kann das alles gar nicht fassen. Mal liegt's am Wetter, dann am Versagen des Rattengifts, schließlich wieder an der Tumbheit der unteren Mannschaftsgrade: „Sollen die ihre Suppe doch alleine auslöffeln!“ flucht er und streichelt sein Seenot- Dingi für die Scharping-Insel zur Errettung schiffbrüchiger Landespolitiker. Freilich: Noch ist Scharping-Island nur eine Fata Morgana, mit deren Materialisierung im Regierungsarchipel – wenn überhaupt – erst in vielen Monaten zu rechnen ist.

Noch vor vier Jahren waren derart trübe Gedanken dem jungen Käpt'n völlig fremd. Ein kollektives Juchhe hatte das SPD-Stadtregime samt ihrem inoffiziellen Oberhaus, der Hamburger Kaufmannschaft, in einen unhanseatischen Rauschzustand versetzt: „Boom-Town“ war angesagt, die schlafende Schöne im Schatten des Eisernen Vorhangs zeigte sich hellwach. Kein Wunder: Mauer weg, Osteuropa nah und die Skandinavier in wilder Panik, den Anschluß an den EG-Binnenmarkt zu verlieren.

Motto: „Hei, was kostet uns die Welt?!“

Stadtstrategos aller Couleur waren sich einig: Hamburg würde der deutsche, ja europäische Einheitsgewinner sein. Drehscheibe zwischen den südostasiatischen Tigern, Stützpunkt von Skandinaviern, Polen und Russen in Europa. Die Elbe, alte Handelsschlagader nach Prag, würde die südosteuropäischen Handelsprovinzen wieder an der Brust Hammonias nuckeln lassen, während das arme Berlin mit dem Mühlstein der Einheitslast am Hals in Alltagsproblemen jämmerlich ersaufen dürfte.

Die neunzigerJahre, das stand fest, brächten rosarote Zeiten an die Elbe. Nach den ölkriselnden Siebzigern und stukturkriselnden Achtzigern würde die Hansestadt wieder dort ansetzen, wo sie am Ende der aufbaubesessenen Fuffziger und wirtschaftswunderseligen Sechziger aufgehört hatte. Frischwärts legte Jung-Voscherau los: freie Bahn für Bürospekulation, Airbus-Subvention, Mietwucher, Planungschaos und flotte Träume: Transrapid nach Berlin, Großflughafen in Parchim, Vertiefung der Elbe von Prag bis Helgoland, ein Stadtautobahnring, neue Hafenflächen und, bunt gesprenkelt am Stadtrand, Trabantenstädte noch und nöcher ... Motto: Hei, was kostet uns die Welt?!

Schon im Einheitsrausch der Jahre 1990 und 1991 machten sich freilich bösartige Kopfschmerzen bemerkbar: Diätenskandal und eine endlose Reihe kleiner Filzeleien sorgten in Hamburg für eine spezielle Variante der Politikverdrossenheit. 106.000 StadtstaatsdienerInnen in Verwaltung und städtischen Unternehmen, geführt von einer in Jahrzehnten dichtgewebten Filzmatte, waren, so zeigte sich, zu modernem Stadtmanagement überhaupt nicht mehr in der Lage. Kleiner Hinweis: Der eurokratische Moloch Brüssel kommt mit nicht einmal 20.000 BürokratInnen aus (Portiers und Putzkolonnen inbegriffen).

Spezielles Merkmal des Hamburger Filzes ist die flächendeckende Einigung auf Null-Kompetenz und die Entscheidungsmaxime, so lange den allerkleinsten gemeinsamen Nenner zu suchen, bis er nicht mehr sichtbar ist. Allein Sonderinteressen mächtiger Lobbys haben eine Chance auf politische Bedienung. Ein Insider: „Der Unterschied zwischen Palermo und Hamburg? Ganz einfach: In Hamburg macht es die Politik aus Überzeugung und fast zum Nulltarif.“

Mit verkrusteten Strukturen und Wachstumsrezepten der fünfziger Jahre, so warnen kritische Intelligenz, ExpertInnen und Grüne seit geraumer Zeit unisono, sei die Zukunftsentwicklung einer Metropole der Neunziger nicht mehr zu steuern. Während in anderen Regionen Deutschlands die politische Krise an der Unfähigkeit zur Krisenbewältigung sichtbar wurde (Strukturbruch im Osten, industrieller Wandel, aufkommende Rezession), entlarvte sich Hamburgs Führungselite in ihrer Unfähigkeit, einen Boom zu steuern: Trotz beispiellosen Reichtums wächst die Armut. Die Stadt erstickt im Verkehr. Jahrzehntelange Versäumnisse in der Stadtplanung rächen sich mit Chaos am Wohnungsmarkt und Durcheinander in der Wirtschaftsentwicklung. Die Stadt steuert trotz überreichlich sprudelnder Steuerquellen in ein finanzielles Desaster.

Hamburgs gesamter politischer Apparat ist reif für die Insel – Parteien, Stadtparlament und Verwaltung müßten von Grund auf renoviert, der rostrote Tanker am kostengünstigsten wohl gleich ganz abgewrackt werden. Das wird – die Wähler sind sich dessen bis zur Verzweiflung bewußt – nicht per Stimmzettel funktionieren. Auch ein paar grüne OffizierInnen auf der Steuerbrücke können diesen Tanker wohl kaum noch wieder flott und auf neuen Kurs bringen: Ship good bye, statt Schiff ahoi! Florian Marten, Hamburg