Ein Haus mit Wärmecharakter

■ Wie lebt sich's im Scharoun-Haus? Ein Blick in die Bremerhavener Friesenstraße

Die Fassade des Einfamilien-Hauses in Bremerhavens Friesenstraße paßt sich so sehr der Umgebung an, daß kein Vorübergehender dahinter den Entwurf eines Architekten von Weltruf vermuten würde. Wer genau hinsieht, wird am Steildach eine weggeschnittene Ecke, eine merkwürdige Delle finden: Scharouns stiller Wink, mit dem er 1935 gegen die zunehmende Reglementierung des Bauens durch die Nationalsozialisten protestiert? Der Schein trügt. Hinter der unauffälligen Klinkerstein-Fassade liegt eine Wohnlandschaft, die die von den Nazis geforderte „anständige Baugesinnung“ außen vor läßt.

Das Haus, das Hans Scharoun für seinen Jugendfreund und Schwager Hans Helmut Hoffmeyer entworfen hat, gehört seit mehreren Jahren dem Apotheker-Ehepaar Gerd und Petra Welge. Daß ihr Domizil zum Museum moderner Wohnkultur geworden ist und die beiden alle paar Wochen von Architekturstudenten oder Journalisten überfallen werden, stört sie zur Zeit noch wenig.

Mit leidenschaftlicher Begeisterung am kleinsten Detail führt Gerd Welge die Gäste durchs Haus. Im zentral gelegenen Foyer erläutert er Scharouns Prinzip der „kurzen Wege“, die den — zur Straße gelegenen — Küchentrakt unmittelbar mit den — vom Garten eingefaßten — Eß- und Wohnräumen verbinden. Das helle „repräsentative Empfangszimmer“ ist am Ende offen. Eine halbe Treppe führt nach oben in den Wintergarten, eine halbe Treppe führt nach unten in ein Gartenzimmer mit elegant geschwungener, weiter Fensterfront.

Gerd Welge zeigt auf die vielfältigen Elemente aus der Schiffbau-Architektur, die Hans Scharoun für das Haus in seiner Heimatstadt übernimmt und zitiert. Es ist nicht nur die platzsparende Ökonomie, mit der er im Kinder- und Schlafzimmer Einbauschränke anlegt, es sind nicht nur die praktischen Schiebetüren mit Schnappverschlüssen, es ist auch die Form des Hauses: Die Treppe in der Mitte, die vom Keller bis zum Dach läuft, hat die Schornsteinform eines Dampfers. In dem leicht gebogenen Balkon vorm Wintergarten sieht Gerd Welge die Kommandobrücke. Fast entschuldigend zeigt der Kapitän den einzigen größeren Eingriff in Scharouns Strukturen, den sich die neuen Besitzer erlaubt haben: Im Badezimmer wurde eine Dusche angebracht, die Badewanne mußte ihr einen halben Meter weichen. Aber „normalerweise führen wir hier keine Gäste hin“.

Als Zehnjähriger hat Gerd Welge das Haus zum erstenmal betreten. Da lag es noch in der stacheldrahtumzäunten amerikanischen Enklave, und in sie einzudringen, galt als Mutprobe. „Mich hat das Haus damals berührt, weil es anders war. Es war nicht dieses stereotype Schachbrett.“ Er schätzt heute das Unkonventionelle an Scharouns Architektur und die Offenheit zum Garten, er spricht vom „Wärmecharakter“ des Hauses. Er zeigt auf den tief gezogenen Dachüberstand, unter dem man sich geborgen fühle.

Probleme hatte seine Tochter beim ersten Blick in die neue Wohnlandschaft. Hier könne ja aus allen Ecken jederzeit jemand auf sie zukommen, habe sie zu den lichtdurchfluteten, offenen Wohnräumen gesagt. „Individuelle Intimität“, sagt Gerd Welge, „ist im Hauptwohnbereich nicht gewährleistet. Es gibt wenig Möglichkeiten, sich zurückzuziehen.“

Ob er es mochte, hätte er damals nicht sagen können, und auch heute ist er sich nicht sicher. Welge fallen die Brüche in Scharouns Werk auf, vor allem zwischen seinem „persönlichen expressionistischen Stil mit auffälligen Außenfassaden und den absolut unauffälligen Fassaden“ der etwa 20 Einfamilienhäuser, die er in den 30er Jahren bis 1942 realisieren konnte. Ist das Haus Scharouns Antwort auf die Gleichschaltung gewesen? Die innere Emigration in die heile, harmonische Familie als Schutz und Fluchtpunkt vor der schrecklichen Dämmerung draußen?

Hans Happel