Die „Toten“ machen Erinnerungsfotos

Stichwort „Septemberwind“: In Schöneweide übten 560 Helfer die Zusammenarbeit bei einer Bahnkatastrophe / Irritierte Rettungshunde und ein realistisches Funk-Chaos  ■ Von Thomas Knauf

Einer der blutüberströmten „Toten“ knipst vorher rasch noch ein Foto zur Erinnerung. Um den termingerechten Beginn der Katastrophe zu gewährleisten, sind die Opfer längst geschminkt, die entgleisten Waggons umgestürzt. Um punkt 8.35 Uhr dringt dann wie auf Kommando ein durchdringendes Wimmern von verzweifelten Menschen aus den geborstenen Fenstern der Waggons. Laut Drehbuch zur Großübung entgleiste jetzt am Bahnhof Schöneweide der durchfahrende Eilzug „ER 3512“. Unmittelbar danach stößt der auf dem benachbarten Gleis ratternde S-Bahn-Zug 15888 der Linie S 8/71 von Grünau über Springpfuhl nach Bernau mit dem entgleisten zweiten Wagen des Schnellzuges zusammen. 60 Reisende werden teils schwer verletzt, 17 weitere tödlich, darunter der Triebfahrzeugführer der S-Bahn und sein Begleiter, auch das steht bereits fest. Dem Szenario folgend müßte nun der Betriebsleiter des Bahnhofs „gemäß Unfallmappe“ die Feuerwehr alarmieren und zugleich bei seiner vorgesetzten Dienststelle einen Geräte-Hilfszug“ der Bahn anfordern. Tatsächlich spurten einige Minuten nach 9 Uhr die ersten Sanitäter mit Erste-Hilfe-Koffern heran. Doch sie können zunächst nicht an die Verletzten heran. Erst muß der Bahnfahrstrom abgeschaltet sein. Wie es im Katastrophendrehbuch heißt, kann nicht ausgeschlossen werden, daß durch die herabgerissene Oberleitung noch 15.000 Volt Wechselstrom pulsieren. Über Steckleitern der Feuerwehr klimmen Ärzte in die auf der Seite liegenden Bahnwagen. Einige Fahrgäste wurden bei dem angenommenen Aufprall ins Freie geschleudert oder konnten inzwischen selbst herauskriechen, liegen mit bösen Wunden auf der Erde. Die schwerer Verletzten werden auf metallenen Tragen zu einer Sammelstelle gebracht. Selbst der Berichterstatter wird aufgefordert, mit am Griff einer Trage anzupacken, „denn das wäre im Ernstfall genauso“. An der Sammelstelle haben die Notärzte zu unterscheiden, wie schwer verletzt die Opfer sind. Damit die Krankenhauskollegen wissen, wer beispielsweise sofort operiert werden muß, gibt es kleine Anhängekärtchen, deren Felder entsprechend angekreuzt sind. Gegen 10.45 Uhr wissen die Helfer immer noch nichts Genaues über die Gesamtzahl der Verletzten und Toten sowie deren Lage in den einzelnen Bahnfahrzeugen. Gerade haben Rettungshunde im ersten Drittel eines umgekippten Waggons anscheinend noch Lebende entdeckt. „Rin und gucken“ befiehlt ein Feuerwehr-Einsatzleiter. Leider bringt der Einsatz des Schäferhund-Collie-Mischlings nichts. Ihr Vierbeiner habe auf dem Zugklo noch „zuviel Restwitterung“ von anderen Fahrgästen erschnüffelt, bedauert Hundeführerin Sabine Glaser.

Es seien alle Opfer der Katastrophe gerettet oder geborgen worden, kann Feuerwehr-Einsatzleiter Peter Proschek dennoch überraschend schon gegen 11.30 Uhr melden. Proschek äußert sich zufrieden über das schnelle und einheitliche Handeln der Rettungskräfte, das speziell bei dieser Übung erprobt werden sollte.

Dabei läuft der Großeinsatz von insgesamt 560 Helfern in Schöneweide nicht ohne Pannen und Probleme. So bricht der Einsatzfunkverkehr zeitweise zusammen. Untermalt von gräßlichem Rückkopplungspfeifen aus den Handfunkgeräten sind nur abgehackte Sprachfetzen statt verständlicher Anweisungen zu hören. Schwerer wiegt, daß offenbar auch die Betreuung der Angehörigen der Unglücksopfer, die laut Polizeieinsatzleiter Horst Brandt bei der Übung einen „großen Part“ einnehmen sollte, nicht so recht klappt. In einem im Bahnhof Schöneweide eingerichteten „Angehörigen-Zentrum“ gibt es zwar Psychologen, und sogar Mitglieder der Türkischen Gemeinde sind vor Ort, um gegebenenfalls Übersetzungshilfe leisten zu können. Dennoch klappt „überhaupt nix“, so ein „Angehöriger“.

Auch bei dem realen Zugunglück in Wannsee, bei dem am Karfreitag 1.200 Meter vom Bahnhof Wannsee zwei Züge zusammenstießen, hatte die Information der Angehörigen viel zu lange gedauert. Ein besonderes Problem dabei wird in der Nachbereitung der Übung eine große Rolle spielen, erklärte der Vizepräsident der Reichsbahn-Direktion, Manfred Möller: Auch bei der Übung erhielt die Reichsbahn aus angeblichen Datenschutzgründen keinerlei Angaben über die Identität der verletzten Reisenden, obwohl sich die Reisenden erfahrungsgemäß mit Nachfragen zuerst an die Bahn wenden. Möller: „Wenn Angehörige bei uns anrufen, müssen wir einfach auskunftsfähig sein.“ Der Reichsbahner hoffte auf ein klärendes Gespräch mit dem Polizeipräsidenten, das diese Woche noch stattfinden soll. Thomas Knauf