Serie: Die neuen Quartiere (2. Folge) / Noch steht die für 100.000 Menschen geplante „Stadt im Grünen“ im Nordosten Berlins wie eine Idealstadt auf dem Reißbrett / Dimensionen könnten Parkstadt zur „Krake“ werden lassen Von Rolf Lautenschläger

Mit dem Duktus der Idealarchitektur

Die Planung großer Siedlungen hat in Berlin nicht nur eine lange und große Tradition. Mit den monofunktionalen Großsiedlungen der siebziger Jahre im Märkischen Viertel und in Gropiusstadt sowie der östliche Plattengewitter in Marzahn und Hellersdorf geriet sie in Verruf. In diesen findet sich nichts mehr von den sozialen und baulichen Utopien der ersten Reformsiedlungen der Jahrhundertwende. Auch der Maßstab der Gartenstädte Martin Wagners und Bruno Tauts mit ihrer funktionalen und ästhetischen Identität gerät dort zum schreienden Widerspruch. Für die räumliche und bauliche Ordnung der neuen Siedlungen im Nordosten Berlins wurde deshalb ein Reglement der Stadtentwicklung erarbeitet, das Ausmaß, Nutzung und die landschaftliche Einbindung der Viertel festschreibt: „Die Räume der Stadterweiterung sollen in die Landschaft eingebettet werden. Es sollen eigenständige, unverwechselbare Stadtteile mit vielfältigen Nutzungsstrukturen und ausgeprägter Stadtteilkultur entstehen. Die Wohnbereiche werden durch Arbeitsstätten ergänzt.“ (FNP-Entwurf '93)

Eine Fahrt mit der S-Bahn in den Nordosten Berlins gleicht einer Zeitreise zurück in die Vergangenheit. Wie in den Filmbildern aus den zwanziger Jahren löst sich das steinerne Berlin schon in den Bezirken Pankow und Weißensee auf und gibt einem unübersichtlichen Gewirr aus Laupenpiepereien Raum. Die Stadt hat dort Fingerabdrücke hinterlassen in Form von Wassertürmen, Wohnblocks und Gleisen. Aber nach „Pankow Spitze“ reißen die Kolonien und vereinzelten Wohnbauten ab.

Im Dreieck zwischen Heinersdorf, Lindenberg und Blankenburg/Karow breitet sich ein grünes Brachland mit Wiesen, struppigen Feldern und kleine Kanälen, baumbestandenen Alleen und topographischen Erhebungen aus. Das weite Gelände zerteilt der schnurgerade Schienenstrang der Bahn von Marzahn nach Oranienburg, den in Blankenburg die S-Bahn nach Bernau kreuzt. Der grüne Streifen zieht sich als sichelförmiger Kranz kilometerweit um die Lauben und den Ortskern von Blankenburg und „sticht“ teilweise bis in das Dorf hinein.

Die Metamorphose des grünen Kranzes in eine neue Vorstadt – die „Parkstadt“ – ist heute noch Papierarchitektur im Duktus einer Idealstadt. Die Planung erinnert an die Vorstellungen einer Anlage, in der alle materiellen und ästhetischen Forderungen berücksichtigt sind. Der Charakter der idealen Planung geht ein auf fiktive Zusammenhänge und „erdichtete“ Abläufe in einem städtischen Raum. Die Neugründung auf dem Papier für 50.000 bis 100.000 Menschen konzentriert sich um einen Kreuzungspunkt, erhebt dort eine „Stadtkrone“ und siedelt planmäßig große Wohn- und Arbeitsstätten in einer Folge von Quartieren an. Entlang der Stadtkante wird ein großer Park – der Namensgeber der Neustadt – geführt.

Zusätzlich zu den Wohnbaustandorten im nahen Karow und in Buch umschließt der Stadtteil mit einer weiten Spange die Siedlung Blankenburg. „Die strukturell günstige Lage im Nordosten Berlins“, sagen die „Parkstadtplaner“, Winfried Pohl und Manfred Zache, „erlaubt, daß mit einer Siedlungsgröße auf 1.100 Hektar geplant wird.“ Der Wohngebietskranz mit einer Länge von mehreren Kilometern und einer Tiefe bis zu einem Kilometer liegt eingespannt zwischen der Achse nach Bernau, dem S-Bahnhof Blankenburg und dem Autobahnring. Zache: „Das Bild des neuen Vororts für 15.000 bis 30.000 Wohnungen und 25.000 Arbeitsplätze soll insgesamt durch niedrige und stark durchgrünte Bebauung gestaltet sein. Ziel des Konzepts ist das Offenhalten der östlich gelegenen Landschaftsräume, die als Volks- und Naturparks qualifiziert werden sollen und radiale Grün- und Klimaschneisen für die Stadt bedeuten.“

Im Detail sollen sich im Süden der New Town dichtbebaute und geschlossene Wohnbereiche entwickeln. Das mögliche Hauptzentrum, mit bis zu achtgeschossigen Büro- und Dienstleistungsgebäuden, Läden und Infrastruktureinrichtungen, entsteht um einen neuen S-Bahnhof „Parkstadt“. Im Norden, bei Karow, „löst sich die Siedlung in kleinere Wohngebiete mit dazwischenliegenden Grünbereichen auf. Hier dominieren individuelle Bebauungsformen und landschaftsprägende Strukturen“, so Pohl und Zache. Das Verkehrskonzept sieht schließlich vor, daß die Trasse der B2 die Siedlung nur tangiert. Zugleich wird die Parkstadt durch die Schließung der S-Bahn-Strecke zwischen Wartenberg und dem Karower Kreuz begrenzt. Zur Verbesserung des ÖPNV durchzieht eine neue Trambahn in Nord-Süd-Richtung die Stadt und kreuzt am neuen S-Bahnhof „Parkstadt“ die S-Bahn.

Das Konzept „Parkstadt“ entwickelte sich 1991/92 vor dem Hintergrund der „Boom-Town Berlin“ und einer bis zum Jahr 2010 erwarteten hohen Zuwanderung von über 300.000 Menschen, die das erhebliche Defizit an Wohnraum ins Unerträgliche steigern würden. „Bei der Steuerung von Potentialen für den Wohnungsbau“, bemerkte damals Jürgen Dahlhaus, Planer bei der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, „kann sich der Staat nicht nur auf die privaten Grundstücke und Absichten verlassen.“ Vielmehr brauche man statt dessen den Zugriff auf große Flächen, deren Entwicklung „er selbst organisieren kann“.

Die landeseigenen Flächen im Nordosten Berlins bilden seither die Projektionsfläche, auf der versucht wird, abzuheben vom Idyll homogener Siedlungsbänder und wuchernder Doppelhaushälften einerseits und den Trabanten- und Großsiedlungen andererseits. Nichts weniger als die „Stadt im Grünen“ soll gebaut werden. „Das neue Leitbild ist nicht mehr die Großsiedlung“, betont Senatsbaudirektor Hans Stimmann, „sondern die Vorstadt, deren Größenordnung um 5.000 Wohneinheiten pendelt. Die Addition der Vorstadtquartiere führt nicht zu einer neuen Großstadt, vielmehr wird jedes Stadtquartier für sich ein neuer Teil der vorhandenen großstädtischen Struktur.“ Die neuen Vororte sollen danach eine eigene inhaltliche Identität erhalten, die den Bezug zu den historischen Spuren und Nutzungen der jeweiligen Ortslagen garantiert. Strategie oder Wunschdenken? Gegenwärtig aber entspricht die Parkstadt den Stimmannschen Vorstellungen in keinster Weise. Bis dato ist die Idee der „grünen Stadt“ Etikette geblieben, der Idealität keine Verifizierung gefolgt. Nach wie vor gleicht das Konzept „Parkstadt“ einer riesigen Collage im Stadtgrundriß. Anstelle eines tastenden Herangehens an den Städtebau und dessen Verkleinerung besteht der masterplanartige Rahmen fort und droht, mit seinen Normen und Größen die Gegebenheiten und Maßstäbe zu überlagern.

Es sind in erster Linie die Dimension und das Ausmaß der Stadterweiterung, die die Parkstadt zu einer Krake vor Ort werden lassen könnten. So erscheint die Transformation der Landschaft und des zerfledderten Dorfes Blankenburg in eine neue Vorstadt nicht als Fortsetzung der baulichen Ablagerungen am Dorfrand. Auf dem Reißbrett liegt vielmehr eine zu große Graphik aus Vierteln und Straßen, Grünanlagen und Zentren, die mit dem Bild der alten Markgemeinde wenig gemein hat. „Mögliche Neubauflächen für Arbeits- und Wohnbauten“, hofft Gert Schilling, Bürgermeister in Weißensee, „dürfen die Struktur und den Charakter der Quartiere nicht zerstören. Die Bebauung durch Verdichtung und Arrondierung im angepaßten Stil fördert die Identität des Bestandes und grenzt nicht aus.“

Zugleich rufen die Dimensionen der Stadterweiterung in massigen Gebilden an der Außenfläche der Metropole Bilder restlos überwucherter Landstriche in die Erinnerung, die längst nicht mehr Stimmanns „Reglement“ für Vorstädte entsprechen. Anstelle einer Stadterweiterung in Form überschaubarer Viertel mit hoher Dichte löst sich die Parkstadt aus ihrer Mitte heraus in immer feinere, kleinere und parzelliertere Figurationen auf. Die städtebauliche Konzentration und der Zusammenhalt des Stadtgrundrisses werden gedehnt und geweitet wie die Siedlungsteppiche am Stadtrand von Hamburg-Nord, Bielefeld und Stuttgart. In Schlangenlinien fressen sich dort die Häuslebauer in die Natur, ohne daß jemals eine Stadt im Grünen sichtbar würde.

Mit dem möglichen Bau der „Parkstadt“ für circa 100.000 Einwohner bleibt für Berlin ein stadtstrukturelles Problem bestehen, wird doch wegen der fehlenden Ansiedlung von Arbeitsplätzen im Nordosten die „Schieflage“ zu den südlichen Arbeitsstandorten verstärkt. Ein so mächtiges Stadtkonzept wie die „Parkstadt“ birgt noch weitere Gefahren. Die bestehende Bevölkerungsstruktur werde einem kompletten sozialen und topographischen Wandel ausgesetzt, befürchtet Rainer Hampel, Baustadtrat in Weißensee. „Der Ort verträgt keinen Zuwachs in solchen Dimensionen.“ Die Angst vor dem „sozialen Brennpunkt Parkstadt“ gehe im Bezirk um, der langsam „erwachsen werden will“. An die Peripherie gedrängt, mit übermäßigem Wohnanteil und Monostruktur, spielte er dann die übliche Rolle – wie jede andere Großsiedlung auch. Nur grüner.