Ein Betriebsunfall

Warum Ulrich Woelk, Jahrgang 1960, den „Roman einer Generation“ schreiben mußte  ■ Von Mirjam Schaub

Wahrscheinlich ereignete sich der Unfall in den frühen Morgenstunden, gleich nach dem Aufstehen. Der Blitz aus heiterem Himmel traf den 33jährigen Physiker Ulrik Woelk noch im Bademantel. Vom Donner gerührt, fiel es ihm schwer, einen zusammenhängenden Gedanken zu fassen: Man müßte doch einmal ... ich müßte doch mal ... einen Roman schreiben ... ein Roman wäre gut ... wie wäre es mit dem Roman einer... mit dem Roman meiner Generation?

Mittlerweile ist das Buch mit dem Titel „Rückspiel“ in allen Buchhandlungen zu haben. Ein Name aus der Sportsprache, zweisilbig, griffig, knapp. Im Gegensatz zum Heimspiel soll es hierbei um eine regelrechte Begegnung gehen, im übertragenen Sinn, versteht sich.

Das aktuelle Rückspiel findet bei Ulrich Woelk auf der soziologischen Spielwiese statt, zwischen der Generation der heute 30- bis 35jährigen und den Kriegsteilnehmern des Zweiten Weltkriegs. Das alte Hinspiel sei ja, meint Woelk, hinlänglich bekannt: die Abrechnung der SDS-Kinder mit ihren NSDAP-Eltern.

Was plakativ und reißerisch klingt, soll auch plakativ und reißerisch sein. Mit Schablonen, Generationen und Konflikten operierend, will Woelk das Alte neu denken, ohne die Kategorien neu zu erfinden. Die Fragen, die er damit provoziert, mögen Empörte ketzerisch finden: Ist rechts rechts und nicht links? Ist Nazi nicht Nazi sondern Jude? Ein durchsichtiger Revisionsversuch, vielleicht. Vor allem aber ist es ein Regieeinfall, der eine ganze Generation aus dem Dornröschenschlag erwecken soll.

Um die Sache zu verstehen, ist es nicht nötig, den Inhalt des Buches zu kennen. Es geht, grob gesagt, um einen jungen Innenarchitekten, der an einem Festtag die Sinnkrise bekommt, Gott, die Welt und eine alte Autoritätsperson für verlogen hält, sich zur Flucht in die Hauptstadt entschließt. Per Zufall lernt er eine schöne Reisekauffrau kennen, die nicht so recht weiß, mit wem sie ins Bett gehen soll und sich schließlich für den Jungarchitekten entscheidet. Alles weitere ist recht unerheblich.

Merken muß man sich nur, daß der Jungarchitekt die Wirren der 68er als Kind erlebt und aus der Ferne beobachtet hat und die Volljährigkeit ungefähr 1978 erreichte. In Serie produziert Ulrich Woelk in seinem „Rückspiel“ Sätze, die das feeling eben jener 78er Generation rüberbringen sollen. Einige Kostproben: „Warum soll ich denn ein Wort über Stammheim verlieren, sagte ich, muß doch jeder wissen, wenn er Terrorist wird, wo das enden kann, so wie der Beamte auf dem Amt endet.“ – „Wieso soll Kiffen subversiv sein, wo doch jeder Fusel aus dem Supermarkt besser knallt.“ – „Warum soll einem das denn nicht egal sein dürfen?“ Klischees über die restlos aufgeklärte Generation, die alles schon weiß und die alles langweilt, sollen für Anschaulichkeit sorgen. Ulrich Woelk will mit einfachen Mitteln das Psychogramm einer bislang unbekannten Generation erstellen.

Das ist nicht eben aktuell, verspricht aber aus einem sehr trivialem Grund das Interesse zu wecken: Die Generation ist nämlich ein wundersames Ding. Was sie ist, bleibt meistens ungewiß. Es zählt zu ihren Eigenheiten, daß sie ihr Zeitmaß neu bestimmen muß. Im besten Fall erzeugen die politischen Umstände das nötige Widerstands- oder Identifikationspotential, denn jede Generation ist auf wenigstens ein Schlüsselereignis angewiesen. Nur so kann Einheit entstehen. Wer nach der Generation ruft, will im Kollektiv von Gleichaltrigen geborgen sein. Im Schoß des Ganzen lassen sich der Einzelne und sein Schicksal neu erfinden. Ein Projektionsfeld öffnet sich.

Es gibt sie wirklich, die „Generations-Romane“, als Geschichten einer Jugend: Goethes „Leiden des jungen Werther“, Kerouacs „On the Road“, Musils „Verwirrungen des Zöglings Törleß“. Ihre Besonderheit liegt darin, daß sie über ihre Generation überhaupt nicht ausdrücklich sprechen. Sie sprechen für sich. Alle Versuche aber, die ersehnte, generationsumfassende Identifikation gezielt herbeizuführen, scheitern gewöhnlich auf das Kläglichste.

Ulrick Woelks „Rückspiel“ ist ein Beispiel für einen solchen mißlungenen Versuch. Ständig reden die Beteiligten über ihren politischen Hintergrund und ihre Lebenszusammenhänge, die Verletzungen der Kindheit oder die Torheiten der Jugend.

Das Ganze wird mit einigen sehr didaktischen Kniffen aufgepeppt. Zum Beispiel muß der Romanheld den Namen Stirner tragen, nach Max Stirner („Der Einzige und sein Eigentum“). Die Namensverwandtschaft mit jenem Philosophen, der das Politische im Radikalsubjektivismus aufgehen ließ, wird ausgerechnet im Moment des Einbruchs in eine Eigentumswohnung enthüllt.

Unumstößliche Regel von Woelks Schreibweise ist es, niemanden über die fortschreitende Selbsterkenntnis des Ich-Erzählers in Unkenntnis zu lassen. Woelk wählt zu diesem Zweck die Formulierung „Mir wurde klar, daß...“ („Erst jetzt, als er mir gegenüber saß, wurde mir klar, daß ich nicht einer Biographie, sondern einem Menschen nachgestellt hatte.“)

Brav, Satz für Satz, hat Ulrich Woelk allerlei Plattheiten aneinander gereiht. Naiv gerät ihm, was linkisch und improvisiert klingen soll, peinlich, was raffiniert gedacht war. Mit Hilfe des Deutschen Literaturfonds e.V. hat der Autor ein Buch geschrieben, das schlicht und ergreifend mißlungen ist. Der Inhalt ist läppisch, mißraten die Form, die Konstruktion bemüht, unerträglich die Sprache. Wer glaubt, Ulrich Woelk habe den Roman seiner Generation geschrieben, weil „Roman“ draufsteht und „Generation“ drin ist, will betrogen sein. Es handelt sich bei „Rückspiel“ um einen nur allzu vorhersehbaren Unfall, um einen Betriebsunfall.

Das Mißlingen von „Rückspiel“ ist symptomatisch für die Ansprüche und Bedürfnisse des Literaturbetriebs, der die sogenannte „jüngere deutsche Literatur“ zu seiner Schutzbefohlenen erklärt hat.

Längst nimmt das Warten auf den „großen Roman“ groteske Züge an. Läßt sich der mustergültige Text, Kategorie G-Roman, vielleicht züchten? Bietet sich die 68er Reihe nicht zur Hybridisierung an? Ließe sich aus den Kummerpflänzchen der Serie '78 nicht wenigstens eine perfekte Degenerationslinie bilden?

Im Vorfeld der Frankfurter Buchmesse hat Woelks Lektor Uwe Wittstock in der Neuen Rundschau (3/93) die neue Parole ausgegeben: „Literatur im Abseits – und wie sie herauskommt.“ Mit der Gerissenheit des selbsternannten Bedenkenträgers hat Uwe Wittstock die schlechte Verkäuflichkeit der jungen Literatur zum Gegenstand gewählt – aus höchst uneigennützigen Interessen, wie sich denken läßt.

Warum, fragt Wittstock, ist seit über zehn Jahren den jungen AutorInnen nicht der große Erfolg beschieden? (Wobei er darauf achtet, da von Erfolg zu sprechen, wo Verkaufs-Erfolg gemeint ist.) Seine Antwort: Die LiteratInnen wollen es nicht anders. „Hochmütig“ sitzen sie in einem „unter Kulturschutz gestellten Schmollwinkel“, beschränkt auf eine „kleine, feine“ Lesergemeinde. Unfähig sind sie – zum „Durchbruch“ als „Ausbruch aus dem esoterischen Zirkel der Kenner und Connaisseurs“.

Statt endlich einmal über literarische Kritiken zu sprechen, packt Wittstock unterm Lektorenschreibtisch den Hau-den-Lukas der Verkaufszahl aus. Als müsse er sich rächen für langwierige und schwierige Lektüre, bezichtigt er einen ominösen Kreis aus dubiosen LeserInnen der Konspiration: wider die Verkäuflichkeit. Der Argwohn und Neid auf jene, die er nur abschätzig „Connaisseurs“ nennen kann, treibt seine Gedanken ins Klägliche. Was bleibt dem Mann anderes, als zu denunzieren, was ihm selbst so schmerzlich fehlt?

„Natürlich darf sich ein Autor in der Rolle eines Rufers in der Wüste gefallen“, meint Wittstock, „– aber kann sich das eine ganze Autorengeneration leisten?“ Bonjour tristesse, das ist er wieder, der Ruf nach der verlorenen Generation... Nur, was verloren ist, kann nicht gerettet werden.

Ulrich Woelk: „Rückspiel“. Roman. S. Fischer-Verlag, 295 Seiten, 36 DM