Spiel mit dem Feuer

Wasserstoffdetonationen können das Containment eines AKWs zerstören / Die Sicherheitskommission liebäugelt mit einer „explosiven“ Lösung  ■ Von Gerd Rosenkranz

Die Sicherheitsexperten gaben sich optimistisch. Sollte in einem deutschen Atomkraftwerk während eines schweren Unfalls Wasserstoff gebildet werden, könne man das explosive Gas im Reaktorsicherheitsbehälter durch frühzeitige „gesteuerte Zündung“ kontrolliert abfackeln. Die Reaktorkuppel bleibe intakt, der Super- GAU ein hypothetisches Ereignis. „In einigen Monaten“, beruhigte die Reaktorsicherheitskommission (RSK), werde sie eine „Empfehlung hierzu aussprechen“ und die Voraussetzungen schaffen für den Einbau entsprechender Zündeinrichtungen in die Atommeiler.

Das war im November 1988. Doch „ausgesprochen“ hat das oberste Beratergremium der Bundesregierung in Sachen Reaktorsicherheit bis heute nichts. Im Gegenteil: Die anvisierten Maßnahmen gegen eine Zerstörung der Reaktorhülle (Containment) sind ins Gerede gekommen. Ein Teil der nuclear community fürchtet, daß die versprochene Zähmung der Wasserstoffgefahr im Ernstfall direkt in die Katastrophe führt.

Am kommenden Mittwoch wollte die RSK trotzdem endlich zur Sache kommen: Im „Entwurf einer Empfehlung“ vertritt der Stuttgarter Wasserstoffexperte Manfred Fischer, Leiter einer „Ad-hoc-Arbeitsgruppe Wasserstoffragen“, vehement das umstrittene Spiel mit dem Feuer. Doch angesichts massiver Kritik selbst in den eigenen Reihen bekam der RSK-Vorsitzende Adolf Birkhofer offenbar kalte Füße. Das Papier wurde vorläufig kassiert. Vor einer endgültigen Entscheidung sollen noch einmal internationale Experten zusammengetrommelt werden. Danach, so der feste Vorsatz, wird noch in diesem Herbst zügig entschieden.

Das Problem, um das es hier geht, ist weder neu noch theoretischer Natur. Ende März 1979 hielt eine Wasserstoffgasblase die Welt in Atem. Gebildet hatte sie sich im US-amerikanischen Unglücksmeiler Three Mile Island (TMI) bei Harrisburg. Etwa 460 Kilogramm Wasserstoff entzündeten sich schließlich im Sicherheitsbehälter. Das Reaktorgebäude überstand die kritische Situation nur deshalb relativ unbeschadet, weil Konzentration und Verteilung des Wasserstoffs im TMI-Containment lediglich für eine vergleichsweise harmlose Verpuffung reichte, nicht aber für die große Detonation.

Große Mengen Wasserstoffgas können sich immer dann entwickeln, wenn der Reaktorkern, etwa nach einem Leck im primären Kühlwasserkreislauf, nicht mehr ausreichend gekühlt wird. Überschreiten die Temperaturen eine Grenze von etwa 1.200 Grad, reagiert heißer Wasserdampf heftig vor allem mit den Brennelement- Hüllrohren aus einer Zirkonium- Legierung. Aus Zirkonium entsteht bei der Reaktion Zirkonoxid, aus Wasserdampf gasförmiger Wasserstoff, der sich in Gegenwart von (Luft-)Sauerstoff entzünden kann. In einem Kraftwerksblock der Biblis-Klasse würden sich so im Ernstfall bis zu 1.500 Kilogramm des explosiven Gases entwickeln.

Die Idee, einer Detonation mit katastrophalen Folgen durch „frühzeitige Verbrennung“ des explosiven Gases Herr zu werden, leuchtet auf den ersten Blick ein: Wasserstoff verbrennt in Gegenwart von Sauerstoff je nach seiner Konzentration sehr unterschiedlich. Unterhalb von etwa vier Volumenprozent ist das Gasgemisch nicht entzündlich, ebensowenig wenn der Wasserstoffanteil in der Luft 75 oder mehr Prozent beträgt. Auch wenn diese „Zündgrenzen“ überschritten werden, kommt es zunächst zu einer einfachen Verbrennung, die nach Überzeugung der Vertreter des Zünder-Konzepts stets „physikalisch langsam, träge und sanft“ verläuft. Nur innerhalb einer gewissen Bandbreite der H2-Konzentration kann das Gemisch explosionsartig detonieren. „Wenn es uns gelingt, eine Wasserstoffverbrennung nahe den Zündgrenzen zu halten“, versichert ein führender Verfechter des Konzepts, „dann sind wir weit weg von den Detonationsgrenzen“.

Die Kritiker teilen diesen Optimismus nicht. Schon vor zwei Jahren lehnte der Münchner Sicherheitsexperte Helmut Karwat, ebenfalls Mitglied der RSK-Ad- hoc-Arbeitsgruppe, die „gezielte Zündung freigesetzter Wasserstoffgase als in ihrer Auswirkung nicht prognostizierbar“ ab. Es sei eben „für niemanden plausibel“, bekräftigt der TU-Professor gegenüber der taz, „daß ein explosives Gasgemisch ausgerechnet durch seine Zündung unschädlich gemacht werden soll“. Voller Sarkasmus bringt Lothar Hahn, der Reaktorspezialist des Öko-Instituts, das Problem auf den Punkt: Die gesteuerte Zündung sei „die sicherste Art, den Sicherheitsbehälter eines Reaktors zum frühestmöglichen Zeitpunkt gezielt zu zerstören“.

Das Dilemma besteht darin, daß niemand vorhersagen kann, ob die konkreten Bedingungen der H2-Freisetzung im Ernstfall, wie in Harrisburg, „nur“ für eine Verpuffung reichen oder ob es zu einer Detonation kommt, die der Sicherheitsbehälter nicht überstehen würde. „Es erscheint nicht möglich“, heißt es in einer Analyse des Kernforschungszentrums Karlsruhe, „alle denkbaren Unfallszenarios zu analysieren“. Die Befürworter der sogenannten „frühzeitigen Verbrennung“ argumentieren, daß ihr Konzept funktioniert, obwohl man die möglichen Unfallszenarien nicht vorher „säuberlichst durchrechnen“ kann. Gerade darin liege der Charme ihrer Idee.

Sie sieht vor, das Containment-Innere eines 1.300-Megawatt-Druckwasserreaktors mit „weit über 50“ künstlichen Wasserstoffzündern regelrecht zu pflastern. Bei Siemens entwickelte und im Labor bereits erprobte Zündvorrichtungen funktionieren im Ernstfall unabhängig von anderen Sicherheitssystemen oder äußerer Stromversorgung. Zwei nach unterschiedlichen Prinzipien arbeitende Varianten sollen dafür sorgen, daß nicht alle Zünder aufgrund unvorhergesehener Bedingungen gleichzeitg lahmgelegt werden können. Beide Zünder- Typen sprechen automatisch an, wenn bei einem schweren Unfall Temperatur oder Druck im Containment steigen.

Doch was beruhigend klingt, kann direkt in die Katastrophe führen. So wirkt heißer Wasserdampf, der gemeinsam mit dem Wasserstoff aus dem primären Kühlkreislauf oder direkt aus dem lecken Reaktordruckbehälter ins Containment strömen würde, zunächst als sogenannter Inhibitor: Er verhindert die Wasserstoffverbrennung über die für trockene Luft geltende Zündgrenzen hinaus. Sobald der Wasserdampf jedoch an kühleren Wänden kondensiert, können schlagartig die Bedingungen für eine Detonation da sein. Die aktivierten Zünder würden sie unweigerlich auslösen. Auf ein weiteres Problem wiesen Forscher der amerikanischen Sandia National Laboratories hin. Sie fanden Wasserstoff-Wasserdampf-Luft- Gemische, in denen die Zünd- und die Detonationsgrenzen praktisch zusammenfallen.

Mehr noch als die ganz große Detonation fürchtet Helmut Karwat die Möglichkeit einer lokalen Zündung detonationsfähiger Gemische. Dabei könnten sich Einbauten, die nur ungenügend gegen Schockwellen ausgelegt sind, aus den Verankerungen lösen und Geschossen gleich verheerende Lecks in den Sicherheitsbehälter reißen. Diese Gefahr bestehe insbesondere im Fall der relativ dünnwandigen „Stahlschalen-Containments“ deutscher Druckwasserreaktoren.

Wolfgang Breitung, Projektleiter für das Wasserstoffproblem am Kernforschungszentrum Karlsruhe, warnt darüber hinaus, daß sich wegen der im Containment sehr unterschiedlichen H2-Konzentrationen eine durch Zünder ausgelöste, zunächst ungefährliche Flamme in hochkonzentrierte Gemische bewegen und „dort eine Detonation auslösen kann“.

Die Gegner des Zünder-Konzepts schlagen als Alternative eine „Inertisierung“ des Containments vor. Dazu wollen sie Stickstoff- oder Kohlendioxidgas, entweder andauernd oder nur wenn sich ein schwerer Störfall anbahnt, in den Sicherheitsbehälter einspeisen. So könnten – mangels Sauerstoff – gefährliche Wasserstoffexplosionen zuverlässig verhindert werden. Die deutschen Reaktorbetreiber wehren sich, ebenso wie die RSK-Arbeitsgruppe „Wasserstoffragen“, heftig gegen diese Lösung, vor allem für die großen Druckwasserreaktoren. Weil inertisierte Containments nicht mehr kontinuierlich ohne Sauerstoffgerät „begehbar“ wären, würde man der Sicherheit der Anlage unter dem Strich eher schaden als nützen – für Helmut Karwat ein vorgeschobenes Argument. Es sei heute technisch möglich, die Atmosphäre im Sicherheitsbehälter nur im Ernstfall binnen weniger Minuten auszutauschen. Die Inertisierung laufender Atomkraftwerke käme die Betreiber jedoch erheblich teurer als der Einbau von H2-Zündern.

Daß Atomindustrie und Bonner Umweltministerium dennoch unbekümmert auf ihr „explosives“ Konzept setzen, hat wohl noch einen anderen Grund. „Zur Einordnung der Problematik“, belehrte vor einiger Zeit Walter Hohlefelder, der für Reaktorsicherheit zuständige Abteilungsleiter im Bundesumweltministerium, das Öko- Institut in Darmstadt, „möchte ich unterstreichen, daß es sich bei Kernschmelzunfällen (...) um hypothetische Ereignisse handelt“. Er gehe davon aus, „daß ein Kernschmelzunfall aus technischen Gründen nicht eintritt“.

Auch von amerikanischen Reaktortechnikern wurde das Wasserstoffproblem „als weitgehend hypothetische Denkübung abgetan“ – bis ihnen an jenem denkwürdigen 30. März 1979 die Gasblase im TMI-Reaktor von Harrisburg das Blut in den Adern gerinnen ließ.